Gezeitenmagie.
Vom Einfluss der Gezeiten.
Phänomen Segeln.
Klingt wie ein Erlebnis, das ich unbedingt mal durchmachen will. Vor allem in der Nacht. Unter dem Sternenhimmel. Einfach nur gucken und sein.
Ich laufe heute zum Segelklub. Windig ist es und diesig. Nordseegrau. Viele Schritte sind es ja nicht. Kaum bin ich da, öffnet mir mein heutiger Gesprächspartner die Tür. Ich kenne Olaf Weers, wie man halt auf Juist jemanden kennt – über sieben Ecken und vom Hallo sagen. Ich fühle mich sofort willkommen, als Olaf mich die Treppen hoch führt in eine Art kleine Bar. Ich kenne die Räumlichkeiten in der Bootshalle von Partys, vom Regattaball und von einer Führung im Rahmen des Lebendigen Adventskalenders. Wir setzen uns an einen runden Tisch und los geht unser Gespräch.
Gezeitenmagie auf Juist: Olaf Weers.
Olaf ist erster Vorsitzender beim Segelklub Juist. Den Rest des Tages vermietet er Ferienwohnungen. Als ich nach seinen Aufgaben als erster Vorsitzender beim Segelklub frage, sagt er: „Alles“. Das nennt mein Vater eine Ingenieursantwort – Komplett richtig, aber nicht das, was man hören möchte. Olaf spezifiziert aber für mich, was seine Aufgaben so sind:
- Der Vorstand stellt sicher, dass der Hafen in Ordnung ist
- Auch weist der Vorstand die Hafenmeisterin an
- Es wird sichergestellt, dass die Bootshallen belegt sind
- Der Vorstand kümmert sich auch um die Arbeitsdienste: Das finde ich besonders spannend. Jedes aktive Mitglied im Segelklub muss acht Arbeitsstunden in der Saison ableisten – pro Liegeplatz. Dazu zählt es zum Beispiel auch, kleine Reparaturen am Hafen durchzuführen, die Steganlagen auf- und abzubauen oder beim Regattaball auszuhelfen.
Olafs Boot heißt „Safari“ – nicht, weil er so ein Fan von Safaris ist, sondern weil Safari „kleine Reise“ bedeutet und für ihn jede Ausfahrt mit dem Boot eine kleine Reise ist. Eine schöne Anekdote, finde ich. Es ist 9 m lang und 3 m breit, ein Segelboot aus Holz, ein Jollenkreuzer, das für das Wattenmeer und das Fahren auf Flüssen gedacht ist.
Der Segelklub Juist.
Der Juister Segelklub wurde 1936 gegründet und veranstaltete 1953 seine erste Regatta – damals mit 29 Booten. Spoiler: Heutzutage sind es weitaus mehr. 1976 wurde der neue Deich gebaut und damit lag das bisherige Bootshaus erstmals hinter dem Deich. Vorher lag das Bootshaus nämlich auf dem Wattenmeer.
Der Segelklub Juist hat knapp vierhundert Mitglieder. Spannend dabei: Viele der Mitglieder sind gar nicht auf der Insel. Olaf bringt den Punkt auf, dass das eine gewisse Verbundenheit spiegelt. Als er mir das genauer erklärt, stimme ich zu: Er bekommt teilweise Fotos zugeschickt, dass mitunter sehr große Schiffe unter dem Zusatz „SK Juist“ fahren und das überall auf der Welt. Er erklärt mir, dass das teilweise Mitglieder sind, die hier auf der Insel das Segeln gelernt haben und nie aus dem Klub ausgetreten sind.



Segeln als Hobby.
Du gehst des Segelns wegen segeln.
Wo du hinfährst, ist relativ egal.
Auf meine Frage, wie viel er segelt, sagt Olaf: „Zu wenig. Es sollte mehr sein“. Durch die Gezeiten ist es natürlich so, dass die Gäste bei Hochwasser ankommen. Genau dann arbeitet Olaf als Vermieter entsprechend auch und kann halt nicht am Hafen sein, um selbst segeln zu gehen. Ich kann das verstehen. Olaf sagt, er muss sich bewusst Zeit nehmen. Sonst lautet sein Urteil am Ende des Sommers: „Das war zu wenig Segeln“. Zurückholen kann man sich den Sommer nicht, wirft er ein. Und das fühle ich. 30 bis 35 Segeltage pro Jahr zu schaffen, befindet Olaf, sei super.
Das Boot selbst, vor allem für Segler*innen und Segler – davon ist Olaf überzeugt – hat heute einen anderen Stellenwert, eine andere Bedeutung, als früher. Heute ist es vielleicht eher emotional belegt, vor allem, wenn man viel daran arbeitet und viel Zeit investiert.
„Du gehst des Segelns wegen segeln. Wo du hinfährst, ist relativ egal“: Das sagt Olaf. Und das finde ich eine unglaublich schöne Einstellung. Es geht um den Genuss und das Erlebnis, nicht aber darum, schnell von A nach B zu kommen – oder generell einen Punkt A oder B zu erreichen. Wobei, das sagt er auch, ein gewisser Ehrgeiz ist schon dabei. Man will schon schneller sein, als jemand, der gleichauf ist. Oder, Olaf grinst dabei, als er das einwirft, „du suchst nach einem Grund, warum der andere schneller ist“.
Olaf erzählt mir, dass er mir seinem Boot manchmal raus aus dem Hafen fährt und bewusst irgendwo bleibt, bis das Boot trocken liegt. Denn dann ist das Wasser aus dem Wattenmeer verschwunden und das Boot liegt dann auf Sand, statt im Wasser. Er genießt die Zeit einfach. Er entspannt auf dem Boot, läuft dann ein bisschen herum. An der Bill darf man das auch – sogar an Land laufen darf man da. Das geht natürlich nur im Wattenmeer. Klingt wie ein Erlebnis, das ich unbedingt mal durchmachen will. Vor allem in der Nacht. Unter dem Sternenhimmel. Einfach nur gucken und sein.



Gezeiten auf Juist.
Die Magie der Gezeiten und der vorherrschende Wind diktieren, wann man wohin segelt.
Durch die Gegebenheiten des Wattenmeeres kann nicht jedes Boot hier fahren. Sie müssen flachgehend sein oder wenig Tiefgang haben. Natur eben. Ich sage immer, dass die Gezeiten Juist kompliziert machen, aber sympathisch kompliziert. Die Anreise richtet sich zum Beispiel nach den Gezeiten. Auch fürs Segeln spielt das natürlich eine Rolle.
Die Gastlieger, die nach Juist fahren, machen das mit Absicht. Einige fahren mit Absicht her, um einige Zeit hier zu bleiben. Andere fahren gar nicht erst her, weil sie nicht in einem gezeitenabhängigen Hafen sein möchten oder weil die Anfahrt zu kompliziert erscheint. Das macht es schon anders, als wenn man zu einem anderen Hafen fährt.
Ich frage nach seiner liebsten Strecke. Die Magie der Gezeiten und der vorherrschende Wind diktieren, wann man wohin segelt. Daher hat Olaf keine liebste Strecke. Es geht ihm ums Segeln an sich. Das Sein. Und die Gezeiten geben den Ton an: Erst segelt man gegen den Wind, dann mit Rückenwind. Herrscht Ostwind, geht’s erst in Richtung Norderney. Das entscheidet dann der Wind.
Segeln läuft auf Juist so ab: Erstmal früh genug vor Hochwasser mit dem Fahrrad ab zum Hafen, ab zum Segeln, nach ca. drei bis vier Stunden muss man zurückkommen, schließlich sind es die Gezeiten, die diktieren, wann das Segeln möglich ist. Ca. 2 Stunden vor bis ca. 2 Stunden nach Hochwasser ist das Segeln möglich. Danach ist zu wenig Wasser im Wattenmeer. Dazu dann noch ein oder zwei Mal als kleine Reise zu einem anderen Hafen. Dann ist er glücklich, betont Olaf.
Das Wetter spielt mit den Gezeiten zusammen und macht das Wattenmeer interessant. Bei Südwind sind die Wellen klein, aber viel, bei Nordwind eher weniger Wellen, dafür aber böiger. Der Nordostwind hat’s mir angetan: Im Zusammenspiel mit der Tide, berichtet Olaf, frischt der Wind auf und bei Hochwasser nimmt er dann wieder ab. Ein seltsames Spiel. Und vor allem ein Phänomen, das es im Auge zu behalten heißt, wenn auf und rundum Juist gesegelt werden soll. Deshalb ist die Windrichtung bestimmend bei der Auswahl der Segelroute. Aber zu windig soll’s natürlich auch nicht sein, denn das geht’s mit dem Segeln nicht mehr, weil’s zu „brisig“ ist. Ein Gleichgewicht braucht es. In mehreren Sinnen der Worte.
Aber ein bisschen actionreich darf es auch zugehen: Stichwort „kreuzen“. Beim Kreuzen geht es auf dem Zickzack-Kurs auf ein Ziel zu, den Wind im Gesicht. Das macht dann schon Spaß, meint Olaf, dann ist es anspruchsvoller und actionreicher. Bis zur Bill kreuzen und umdrehen passt perfekt, um die Tide auszunutzen.
Besonders Segeln auf dem Juister Wattenmeer.
Die Gezeiten und das Wetter machen das Segeln auf dem Wattenmeer besonders: Der Strom (also die Strömung) richtet sich nach der vorherrschenden Gezeit. Vor allem an der Bill verändert sich dann das Fahrverhalten eines Segelboots. Auch an den Tonnen und den Pricken kann man das sehen. Wenn Wind und Strom gegeneinander arbeiten (also Westwind und ablaufend Wasser zum Beispiel), sind die Wellen merklich höher. Und im Gegensatz: Wenn Wind und Strom in eine Richtung laufen, ist das Wasser eher glatt. Aber das ist auf dem Juister Watt alles eher dezent, trotzdem aber merklich.
Aber: Olaf sagt, dass auflaufendes und ablaufendes Wasser Einfluss auf den Wind haben. Es kann sein, dass bis Hochwasser viel Wind ist und dann plötzlich nicht mehr. Den Einfluss kann er nicht erklären, aber er sagt, das ist so. Und ich glaube ihm das unbesehen, denn zum Glück gibt es noch immer unerklärliche Vorkommnisse auf der Welt.
Gleichzeitig ändern sich die Fahrgewässer immer wieder – auch durch den Einfluss der Gezeiten. Zur Westseite ist das Watt flacher geworden, nach Osten hin vertieft sich das Wattenmeer.
Olaf bringt einen Punkt auf, der mich stutzig machen lässt: Durch die Gezeiten und die Gebundenheit an diese Gezeitenkräfte ist es nun mal so, dass man keine Auswahl hat. Es klingt für mich danach, dass er die Gezeiten als einschneidende Kraft wertschätzt.


Der Segelhafen auf Juist.
Das ist der Preis, den du zahlen musst, um hier überhaupt segeln zu können.
Der Juister Segelhafen entstand 2008, als auch das Seezeichen gebaut wurde. Erst durch die Seebrücke entstand der Platz, um so einen großen Segelhafen mit so vielen Liegeplätzen zu bauen: Der Segelhafen hat 163 Plätze, davon sind ca. 70 festvergeben an Mitglieder des Segelklubs. Der erste Juister Hafen übrigens befand sich dort, wo das Bootshaus jetzt ist. Der darauffolgende Hafen dann ungefähr auf halber Höhe zwischen dem Bootshaus und dem heutigen Hafen. Spuren davon sieht man allerdings nicht mehr, denn dort sind nun die Spülfelder beheimatet.
Bevor es mit dem Boot ins Wasser geht im Frühjahr des Jahres, muss der Hafen auf Vordermann gebracht werden. Olaf erläutert, wie die Stege im Segelhafen auf- und wieder abgebaut werden. Klingt aufwendig für mich. „Das ist der Preis, den du bezahlen musst, um überhaupt hier segeln zu können“. Genau wie der Hafen, wo die großen Fähren und die Express-Boote anlegen, muss auch der Segelhafen regelmäßig gewartet werden. Dann kommt ein Spülschiff, erklärt Olaf mir, das es so nur einmal gibt. Relativ klein, damit es im ebenfalls relativ kleinen Segelhafen manövrieren kann, und ausgestattet mit starken Düsen (quasi wie so ein Gartenschlauch, stelle ich mir vor). Diese Düsen lockern die Sedimente und durch die nächste Ebbe werden die Sedimente dann zu einem großen Teil aus dem Segelhafen gezogen. Würde man nicht regelmäßig spülen, wäre der Segelhafen leider unbenutzbar. Das passiert normalerweise vor Ostern, sodass der Hafen ab dann und bis ca. Herbst einsatzbereit ist.
Der Segelklub verfügt neben seinen Anlegeplätzen über WLAN, eine Versorgung mit Strom und Wasser, einen Grillplatz sowie ein Sanitärgebäude mit Wasch- und Trockenautomaten und Toiletten. Besonders ist der Hafen auch, weil er so nahe am Ort liegt.
Auf der Website des Segelklubs steht: „Der Juister Hafen ist ein typischer Watthafen, d.h. er fällt bei Ebbe weitestgehend trocken“ – Für mich ist das selbstverständlich, aber ich kann allein an diesem Satz erkennen, dass das was ganz Besonderes für Segler*innen ist.
Gastlieger müssen sich nicht anmelden – das hätte ich anders erwartet. Olaf lacht und erklärt mir, dass die freien Plätze markiert sind. Man macht das Boot dort fest und geht dann zum Hafenmeister und klärt alles Weitere. Selten ist mal jeder Platz belegt. Für einen Vereinshafen ist ziemlich viel Platz hier. Sollte doch mal alles voll sein, hilft man einander und es wird Platz geschaffen. Kameradschaft. Fairness. Oder, wie Olaf es schlicht nennt: „Seemannschaft“.
Im Angesicht der Gezeiten.
In mir brennt jetzt der Wunsch, im Sommer jemanden zu treffen, der oder die ein Boot hat und mich mitnimmt. Ich will auch mal „sein“, ich will nachts unter dem Sternenhimmel trockenfallen und auf dem Watt sein. Ich will das auch mal erleben. Das klingt so cool. Ich möchte diese Stille, aus Wellen und Wind, hören. Ich glaube, ich möchte auch mal segeln lernen. Das Gespräch mit Olaf hat diesen Wunsch auf jeden Fall in mir Landratte geweckt. Die Magie der Gezeiten tut ihr Übriges.


