Die Geschichte vom „Gestrandet sein“.
Robinson Crusoe.
Wenn ich „Strandung“ höre, denke ich an eine Geschichte, die früher in aller Munde war: Robinson Crusoe. Und kein Text über Strandungen ist, meiner bescheidenen Meinung nach, komplett, ohne DEN Gestrandeten schlechthin zu erwähnen.
„Robinson Crusoe“ ist ein Roman von Daniel Defoe. In diesem Roman ist Robinson ein englischer Schiffbrüchiger, der 28 Jahre auf einer einsamen Insel verbringt – unfreiwillig und gestrandet. Robinson ist Sohn eines Kaufmannes und geht, trotz der Warnung des Vaters, zur See. Dort wird er versklavt, kann aber fliehen. Mit ihm flieht ein anderer Junge. Beide werden gerettet und nach Brasilien gebracht. Robinson wird schnell unsympathisch, spätestens, als er den Jungen in die Sklaverei verkauft, aus der er selbst nicht zu lange vorher freigekommen ist. Er wird Plantagenbesitzer und kauft Sklaven aus Afrika, geht sogar selbst zur See, um sich Sklaven zu „besorgen“. Bei einem Sturm sinkt das Schiff. Er überlebt als einziger und rettet sich auf eine einsame Insel. Er strandet. Dort muss er von Anfang an alles selbst tun und lernen – einen Unterschlupf errichten, Lebensmittel anbauen, jagen, Kleidung herstellen. So sieht sein Leben einige Jahre lang aus. Robinson wird irgendwann krank, dann gläubig und vielleicht etwas verrückt. Er entdeckt Spuren anderer Menschen. Kannibalen suchen die Insel heim und verspeisen dort ihre Opfer. Robinson rettet eines dieser Opfer – Freitag. Freitag wird zum Freund und Diener Robinsons. Nach insgesamt 28 Jahren wird Robinson dann gerettet: Mit List und Gewalt erobern Robinson, Freitag, der Kapitän eines Schiffes, auf dem gemeutert wurde, und zwei weitere Männer das Schiff und entkommen so in die Freiheit. Die Meuterer bleiben auf der Insel zurück.
Die Geschichte basiert übrigens auf wahren Tatsachen:
Der Schotte Alexander Selkirk gehörte zur Mannschaft eines Piraten und wurde 1704 nach einem Streit auf einer einsamen Insel zurückgelassen. Ein Schicksal, das schnell zum Tod führen könnte. Doch Selkirk überlebte vier Jahre auf der Insel. Robinson Crusoe wird heute als Roman über Abenteuer und Strandungen verstanden, war aber eigentlich als Gesellschaftskritik aufgelegt, denn im zweiten Teil der Geschichte geht es um Robinson auf dem Festland und wie er – meiner Meinung nach – immer unsympathischer wird. Aber diesen Teil kennen die Wenigsten und so bleibt Robinson Crusoe ein Synonym für Strandungen – noch heute.
Dann, endlich, trug mich eine Woge weit auf den Strand hinauf und ließ mich, halb tot von dem geschluckten Wasser, liegen.
Daniel Defoe, „Robinson Crusoe“, S. 19
Es ist ein seltsamer Gedanke, nicht wahr? Dass nach der lebensgefährlichen See der fremde Strand wie eine Rettung wirkt. Da ist noch kein Gedanke verloren an das, was kommt. An das, was Strandung bedeutet. Daniel Defoe sagte es: Halb tot und dennoch zu einem der primitivsten Gedanken fähig war die Strandung sicherlich ein schreckliches Schicksal, aber immer noch besser, als in der endlosen See zu ertrinken.
Das Buch erschien 1719 und ist immer noch eine Art Pflichtlektüre für viele Bücherfans. Warum? Die Motive sind zeitlos. Die Angst, alleine auf weiter Flur zu sein, ist heute noch genau so präsent wie damals. Was eigentlich keinen Sinn macht. Wir sind alle so vernetzt miteinander, dass es bald auffallen würde, wenn wir wirklich auf einer einsamen Insel stranden würden. Handys sind wasserdicht und haben gefühlt überall Empfang. Es gibt Protokolle, wenn man über Bord geht. Dennoch. Tief in uns scheint das Thema Strandung seine Faszination und Gefahr behalten zu haben. Verständlich.
Das zentrale Thema der Strandung und des Eingeschlossen-Seins auf einer Insel wird nach dem Roman als „Robinsonade“ bezeichnet. Und das ist es auch, was in meinem Kopf schwebt: Filme über eine Strandung, die irgendwie doch noch eine (oftmals halbwegs) gute Wendung nehmen, Klassiker wie Cast Away, Die Blaue Lagune, Der Herr der Fliegen oder wie sie alle heißen.
Gulliver.
„Gullivers Reisen“ ist ein satirischer Roman, der 1726 erschien und vom irischen Priester, Politiker und Schriftsteller Jonathan Swift. Im Buch wird die Verhältnismäßigkeit von sich selbst zu anderen zentral thematisiert.
Die Geschichte folgt Gulliver, der Schiffsarzt ist, und vor einer Insel strandet. Dort trifft er winzige Menschen, die ihn erst als Bedrohung sehen, dann annehmen und schließlich eskaliert ihr Konflikt und Gulliver flieht. Seine Reisen führen ihn danach nicht wirklich freiwillig, sondern durch einen Unglück auf See ins Land der Riesen, danach ins weitere ferne Länder.
Nach jeder Station findet er den Weg zurück in seine Heimat und strandet wieder. Es ist das Zusammenspiel von zwei gegensätzlichen Gefühlen: Strandung und Zuhause. Gulliver fährt zur See, er strandet. Gulliver findet nach Hause, er fährt wieder zur See.
Strandfunde in der Geschichte.
Die andere Seite der Geschichte sind die Funde.
Strandung ist für die eine Seite verloren. Das Schiff ist gestrandet mit allem, was es dabeihatte. Das Schiff kann man quasi abschreiben. Irgendwie kann man es vielleicht noch retten, aber die Ladung ist wohl verloren. Bei der Strandung geht ein Schiff kaputt.
Die andere Seite findet etwas. Es kann kurios oder unauffällig sein: Bei uns auf Juist wird immer mal wieder Müll angespült – Stücke Tau, Seil, ein Gummistiefel, eine Brille.
Dann gibt es aber auch die kuriosen Fälle. Ein Bestandteil der Front eines Mini Cooper, der einfach auf der Insel aufgetaucht ist. Oder Gummienten. Sekunde, ich komme gleich dazu.
Das System „Strandung“
So eine Strandung hat ihren ganz eigenen Platz in dem System, das unsere Meere sind. Was in Alaska passiert, hat unweigerlich auch Auswirkungen auf die Nordsee. Faszinierend, wenn man ehrlich ist. Wir sind alle verbunden. Irgendwie.
Die Forschung der Strömung der Weltmeere hat diese ungewollte Experiment weitergebracht. Neue Erkenntnisse wurden gefunden. Und das ist ja auch eine Strandung: Alles Wasser trifft irgendwann mal auf ein Stück Land. Es kommt an. Aber ist die Reise dann zu Ende? Ich denke nicht, auch wenn die Gummiente dann dort gestrandet ist.
Und die Moral von der Geschicht‘? Ich denke, es ist ganz deutlich: Wir sind alle verbunden. Über Gefühle, über die Meeresströmung. Es spielt im Grunde keine Rolle. Es gibt keinen Grund, warum wir nicht trotz einer Strandung an genau diesem Ort glücklich werden können, wenn wir uns dem Gedanken öffnen. Und selbst diese Gummientchen, die irgendwo von Bord gegangen sind, haben sich auf eine Reise gemacht. Auf eine Reise, die mit einer Strandung geendet ist. Ihre Heimat haben sie vielleicht niemals wiedergefunden, aber auf einer Reise waren sie dennoch, gestrandet sind sie dennoch. Ein Symbol der Verbundenheit und der Suche nach etwas, der unerwarteten Hindernisse und der Hürden, über sie wir uns kämpfen müssen auf dem Weg nach Hause.
Gestrandet sein.
„Gestrandet sein“ ist für mich mehr als nur das eigentliche Wort. Es hat so viele Bedeutungen: gestrandet sein im Beruf, gestoppt, verloren, ausgebremst, erfolglos hängenbleiben, festsitzen, dieses Gefühl von „Nicht-Fort-Kommen“ im Negativen.
Menschen stranden auf Juist. Sie kommen hierher, um zu arbeiten. Oftmals ist der Plan, nur eine Saison über zu bleiben und dann in die Heimat zurückzukehren. Solche Menschen bleiben dann vielleicht sogar ihr ganzes Leben lang. Von der Strandung zur Heimat. Es ist eine positive Sicht auf dieses Wort. Auf dieses Eingeschlossen sein. Die Robinsonade in der Wirklichkeit.
Mit dem großen, breiten, wunderschönen Strand geht es leicht, hier zu stranden als Person. Irgendwie wird die Insel zur Heimat und schnell passiert es, dass man hier nicht nur gestrandet, sondern regelrecht angekommen ist.
Und „gestrandet sein“ für mich bedeutet auch, etwas zu suchen. Denn: Wäre ich gestrandet, wenn ich mich mit der Situation einfach abfinden würde? Ich denke nicht. Dieses Gefühl von gestrandet sein ist unabdingbar damit verbunden, was vorher war und was danach sein soll. Stranden bedeutet auch, auf der Suche nach Zuhause zu sein. Denn: Ich kann nur stranden, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert ist, das mich an diesen unbekannten Ort gebracht hat, den ich nie zuvor als Zuhause in Betracht gezogen habe. Stranden kann ich nur, wenn ich an diesem Ort eigentlich nicht wirklich sein will und alleine das Schicksal oder der Zufall mich hierhergebracht haben.
Wie wird ein Ort zur Heimat?
Nachdem ich mich einigermaßen mit meiner Lage ausgesöhnt und mir vorgenommen hatte, nicht unablässig nach einem Schiff auszuspähen, begann ich mir meine Lebensweise so angenehm wie möglich einzurichten.
Daniel Defoe, „Robinson Crusoe“, S. 29
Überhaupt: Was ist Heimat? Was ist Zuhause?
Es ist ein schleichender Prozess, dieses Stranden im übertragenen Sinne. Das Heimweh wird irgendwann weniger. Man freut sich auf diese Umgebung, wenn man weg ist. Auf das Gefühl und die Menschen, auf die Kultur und die Erlebnisse. Irgendwann erwischt man sich dabei, wie man „Nach Hause“ sagt und den Ort meint, an dem man gestrandet ist. Zuhause ist ein Gefühl von Zugehörigkeit, von Verwurzelt sein, vom Freude und Liebe, ein Wohlfühlort. Zuhause ist vielleicht ein Mensch, vielleicht ein Gefühl, ein Geruch, ein Anblick oder einfach ein Gedanke. Zuhause ist vieles, denke ich. Es ist ambivalent, dieses Zuhause, vielseitig und flexibel. Und so vollkommen individuell.
Der Duden definiert Zuhause so:
Unterschied zu Hause und zuhause: „zu Hause“ ist sich in einem Haus befinden, das das eigene ist, aber „zuhause“ ist eine Wohnung oder ein Haus, indem man sich wohl fühlt und legt, ein Heim
Zuhause – Das ist eine Sehnsucht, ein Wohlfühlort, das Gefühl von angekommen sein, von Geborgenheit, davon, glücklich zu sein. Zuhause ist, wenn man gleiche Werte teilt, wenn man sich bewusst oder unbewusst dafür entscheidet, irgendwo „zuhause zu ein“. Zuhause ist, wenn man authentisch sein kann, wenn man die Routinen und Rituale liebt, wenn ein Ort, dich spiegelt und sich mit dir verbindet. Wenn es einfach passt. Alles.
Ich frage mich, wie sich der echte Robinson Crusoe – der schottische Pirat Alexander Selkirk – gefühlt haben muss, als er vier Jahre auf einer Insel gestrandet war. Hat er sich Gedanken darüber gemacht, was „Zuhause“ ist und wie man in der Zukunft sagen wird, dass er „gestrandet“ ist? War er viel mehr damit beschäftigt, zu überleben und nicht vorlauter Heimweh zu zerfließen?
Gestrandet sein: Die Suche nach Heimat.
Ich denke, wir sind doch alle irgendwie gestrandet und suchen nach Heimat. Vielleicht nicht immer im Großen, aber irgendwann im Leben auch mal im Kleinen. Vielleicht sind wir unzufrieden im Job und sehen keinen Ausweg. Wir wollen aber Spaß und Erfüllung im Leben finden. Vielleicht sind wir in einem Trott in unserem eigenen Leben angekommen und fühlen uns wie eingesperrt, wie gestrandet. Vielleicht ist es die Beziehung, die sich wie ein Abgrund nach der Katastrophe anfühlt und im Grunde soll doch einfach nur alles angekommen anfühlen.
Robinson Crusoe hat in all seinen Abenteuern das Weite gesucht, sich von seiner Heimat getrennt und doch hat es ihn am Ende zurück aufs Festland, nach England geführt, in sein Zuhause. Aber da ist noch mehr, da ist etwas, das ich noch nicht geschrieben habe über Robinson Crusoes Geschichte. Robinson ist auf die Insel zurückgekehrt. Freiwillig. Er kam zurück an den Ort, wo er 28 Jahre lang gestrandet, gefangen und isoliert war. Und was fand er? Ein Zuhause. Nicht seines, aber die Meuterer und einige andere haben sich auf der Insel ein Zuhause aufgebaut. Ob der Ort, an dem er gestrandet ist, für Robinson Crusoe auch ein bisschen Zuhause geworden ist?