Weitsicht.
Der Horizont und ich.
Ich stehe an Ostern auf dem Leuchtturm Memmertfeuer. Die NOPONIRE AG lässt einen gegen Spende dann auf das Leuchtfeuer, um die Aussicht zu genießen. Mit einer richtigen Führung auf den Leuchtturm habe ich es noch nicht geschafft, das steht aber auf der To-Do-Liste. Jedenfalls stehe ich auf dem Leuchtturm. Super hoch ist er nicht, was gut für mich ist, denn ich habe Höhenangst. Ich schaue mich um, gehe rund um den Leuchtturm in der Höhe auf diesem „Balkon“. Schwindelerregend ist die Höhe noch nicht, aber ich merke, dass der Wind schon ordentlich zu spüren ist hier oben.
Auf der einen Seite sehe ich den Hafen, die Windräder in der Entfernung, das glitzernde Watt in der untergehenden Sonne, den bewölkten Himmel, das Festland in einiger Entfernung. Etwas weiter links schaue ich entlang der Insel in Richtung Flugplatz und Kalfamer, nach Osten. Ich bilde mir ein, die startenden und landenden Flugzeuge erkennen zu können. Drehe ich den Kopf auf meiner derzeitigen Position nach rechts, schaue ich in Richtung Bill, in den Westen. Ich kann die Salzwiesen erkennen und die Billstraße, die weißen Häuser der Siedlung und den Deich.
Dann gehe ich über den kleinen Balkon halb rund um den Leuchtturm und schaue nach Norden. Dort eröffnet sich mir Weite. Klar, ich sehe die Dünenkette, das Herz der Insel mit kleinen Straßen, Kutschen, Fahrrädern und Menschen, aber ich sehe vor allem Strand und Meer. Ich sehe den Horizont, diese Trennlinie zwischen hier und da, dieses leicht vage Gefühl.
Hinter’m Horizont geht’s weiter: Ein neuer Tag
Udo Lindenberg, Horizont
Weite. Den Horizont. Ich sehe diese Linie zwischen Meer und Himmel, leicht verschwommen, nicht wirklich trennscharf. In der Entfernung „bluten“ die beiden Blautöne ineinander, der Himmel gleißend hell in strahlendem Azur-Blau, das Meer immer in Bewegung und in seinem trüb-blau-grünen Ton, der am Horizont wie gemalt und vollends statisch aussieht. Ab und an verdeckt eine Wolke den Anblick des Horizonts. Es ist traumhaft schön.
Der Horizont fasziniert. So ist es einfach. Punkt. Mal wirkt es, als könnten wir ihn ergreifen, diesen Horizont, und berühren und einfangen, so nah scheint er uns. Mal ist er unendlich weit entfernt, kaum zu erkennen. Natürlich ist der Horizont immer gleich weit entfernt, wenn die gleichen Parameter und Variablen eingehalten werden. Man kann berechnen und erklären, argumentieren und belehren, aber so richtig einfangen kann man den Horizont nicht. Er bleibt doch immer irgendwie außerhalb unserer eigenen Reichweite.
Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont.
Konrad Adenauer
Trotzdem entbehrt das nicht der Magie, die so ein Horizont mit sich bringt.
Die Entfernung zum Horizont.
Die Entfernung ist nicht immer gleich. Du und ich – für uns ist der Horizont nicht gleich weit entfernt. Es kommt auf so viele Faktoren an – wie immer im Leben. Wie weit der Horizont denn nun von uns entfernt ist, erklärt dir Julia in ihrem Artikel. Im Grunde spielt die genaue Entfernung zum Horizont für meine Argumentation auch keine Rolle, denn: Sie ist verschieden. Sie kann beeinflusst werden. Das ist der Punkt.
Ich finde, das ist eine tolle Sache, denn: Die mathematische Rechnung hinter der Entfernung zum Horizont zeigt, dass ich nur eine Sache ändern muss und schon ist mein Horizont erweitert. Ich wechsele meine Position und schon ist der Horizont weiter entfernt.
Ich ändere meine Sichtweise und schon kann ich so viel mehr sehen und erleben und verstehen und begreifen. Ich sage bewusst „Ich ändere meine Sichtweise“, denn ich kann nur mich in dieser Variabel verändern. Ich kann meine Position ändern. Plötzlich ist da so viel Platz für alles.
Wenn ich weiter als andere gesehen habe, dann nur deshalb, weil ich auf der Schulter von Giganten stand.
Isaac Newton
Grenze.
Der Horizont muss so viele Menschen fasziniert haben, dass er zu einem geflügelten Wort geworden ist. Wir meinen nicht nur den Treffpunkt von Himmel und Erde, sondern auch:
- Zukunft
- Vages Ziel
- Unerreichbarkeit
- Perspektive
- Utopie
- Sinnbild
… und so viel mehr!
Zwischen hier und dem Horizont ist also ganz viel Platz. Für Wünsche, Hoffnungen, Weite.
Und genau diese Weite ist es, die mich fasziniert und anzieht. Ich komme aus einer Stadt. Auch hier gibt es natürlich den Horizont, aber unterbrochen und überdeckt von Gebäuden, Bergen und anderen Menschen vor meinem Auge.
Auf Juist ist das anders. Hier ist Weite das Programm. Weitsicht. Leere. Viel Platz für nichts und alles.
Fühl‘ die Weite
Slogan der Tourismusmarketing Niedersachsen
Bei meiner Recherche bin ich auf die Aussage eines Wattführers aus Ostfriesland gestoßen: „Das Land hier ist so flach und weit, dass mindestens 90 % Himmel zu dieser Landschaft gehören“.
Und das stimmt. Die Weite über dem Kopf und die Weite vor den Augen faszinieren mich. Da ist so viel Platz bis zum Horizont. Das kennt man aus der Großstadt so eher selten. Und hier ist das alltäglich. Den Horizont zu sehen und wirklich wahrzunehmen, nicht nur unterbrochen durch Gebäude, sondern unverbaut und in vielen Bereichen auch unverbaubar. Den Horizont wirklich zu betrachten, anzuschauen und wertzuschätzen – Das ist eines dieser alltäglichen Dinge, die wir viel zu selten tun. Auch (aber nicht nur) weil wir ihn gar nicht immer sehen, den Horizont, diese Trennlinie zwischen zwei Welten.
Weite.
Wir Menschen brauchen Weite. Manche von uns mehr, manche weniger.
Nicht umsonst schauen wir so gerne in die Ferne, lieben Ausblicke und Panoramen. Wir klettern auf Berge, schauen ins Nichts. Wir buchen Hotelzimmer mit Sicht aufs Meer und die Berge. Wir hängen uns in unsere Räumlichkeiten großformatige Fotos, die Weite zeigen.
Wir lieben Weite also als Menschen.
Vielleicht fasziniert uns auch einfach nur, was wir nicht haben können:
Den Horizont werden wir niemals berühren oder finden können. Er verschiebt sich, Schritt um Schritt, den wir machen.
Das Ende der Welt.
Der Horizont markiert das Ende der Welt. Oder eher: markierte. Früher, als die Menschen noch glaubten, am Horizont würde man von der Welt fallen. Das Ende der Welt: Genau da würde man abrupt stürzen. Alle Kulturen dachten das zu einem gewissen Zeitpunkt. Verschiedene Landzungen oder südlichste oder nördlichste Landzipfel werden in unterschiedlichsten Ländern umgangssprachlich als Ende der Welt bezeichnet.
Einige von ihnen tragen noch heute Namen, die auf diese Bezeichnung zurückgehen. Mein Favorit: Ein Départment in der Bretagne heißt Finistère, vom lateinischen „Finis terrae“, also Ende der Welt. Abhängig von da, wo wir lebten als Menschen, war also das Ende der Welt. Für jede Kultur war das Ende der Welt geografisch woanders. Aber die Faszination mit dem Ende der Welt war gleich. Klar, denn: Solange wir als Menschheit nur mit den Augen sehen konnten und unsere Reisegeschwindigkeit vom Wind und unsere Reisedauer von den Lasten, die wir tragen konnten, abhingen, war die Welt für uns klein. Der Horizont unvorstellbar weit entfernt und das Ende der Welt, wo wir abzustürzen drohten, real.
Was die Raupe Ende der Welt nennt, nennt der Rest der Welt Schmetterling.
Laozi
Heute wissen wir zwar, dass das alles ziemlicher Unsinn ist, aber die Faszination vom geografischen Ende der Welt bleibt. Der Horizont behält seine Magie und Mystik. Die Weite, die wir erfassen, aber vielleicht nicht richtig verstehen können, behalt ihre befreiende Wirkung.
Ich kann mir bildlich vorstellen, wie Menschen vor hunderten von Jahren an einer Küste – am Ende des Landes – standen und aufs Wasser starrten. Nichts zu erkennen in der Ferne. Meer, soweit das Auge reicht, Himmel soweit das Auge reicht. Nur – da! Diese verschwommene Linie. Siehst du das? Da muss die Welt enden. Bloß nicht beim Fischen morgen zu weit weg vom Land fahren, sonst fällt man da noch runter. Immer in Sichtweite von zuhause bleiben.
So ging das wohl – bis irgendwer einfach zum Ende der Welt gesegelt ist und herausgefunden hat, dass die Welt am Horizont tatsächlich gar nicht endet. Huch, wer hätte das gedacht?
Noch viel faszinierender aber finde ich, dass wir immer noch den Horizont so herausstellen als besonders. Er ist noch immer in unseren Köpfen eine Trennlinie zwischen hier und da, zwischen heute und morgen, zwischen Realität und Traum – Trotz unseres wissenschaftlichen Fortschrittes, trotz unserer Bildung. Trotz allem.
Fühl‘ die Weite!
Spüre die Magie des Horizonts!
Die Weite, die man auf Juist erfahren kann, ist das, was den eingeengten Alltag in der Stadt mit den eng getackteten Terminen sofort vom ersten Urlaubstag an verschwinden lässt.
Juist ist und bleibt für mich der Lieblingsort, den ich sofort zu meiner Heimat machen würde, wenn das möglich wäre.