Sprechende Wände.
Gebäude als Zeitzeugen.
Wände, die Geschichten erzählen.
Ich bin mal ganz ehrlich: Eigentlich wollte ich über etwas ganz Anderes schreiben. Aber das Leben passiert und so kommt Plan B zum Tragen. Eigentlich Plan C sogar, aber sprechen wir nicht darüber. Ich habe also in meinem Büro gesessen und mir Gedanken darübergemacht, wer oder was Schweigen verkörpert. Jemand anderes wäre sicher auf eine andere Idee gekommen, aber ich liebe Geschichte. Ich liebe die seltsamen Anekdoten und Kuriositäten, die eine lange Geschichte zu erzählen weiß.
In diesem Monat soll es ums Schweigen gehen, um Stille und Ruhe. Da habe ich angefangen mir Gedanken zu machen: Schweigen, bedeutet zuschauen, ohne einzugreifen, gehört zu unbeteiligt, bringt mich zu trotzend den Launen anderer, ist stark, unvergänglich. Und dann hatte ich sie, meine gute Idee des Tages: Stille Zeitzeugen. Ich spreche nicht von den Zeitzeugen, die Schreckliches (oder in selteneren Fällen auch mal Wunderbares) erlebt haben und davon berichten. Nein, diese Menschen meine ich nicht. Wenngleich ihr Einfluss nicht in Worte zu fassen ist. Nein, ich meine Gebäude als Stille Zeitzeugen. Mal sagt ja nicht umsonst:
Wenn diese Wände sprechen könnten …
Ein Gebäude durchläuft einen Kreislauf. Es wird mit Herzblut und Hoffnung geplant, es wird mit Schweiß und Blut gebaut. Darin wird gelebt. Generationen wachsen in einem Haus auf. Generationen nutzen und berühren diese Wände, Hoffnungen und Liebe und Verzweiflung klebt an ihnen. Gas Gebäude wird angegriffen und alt. Es wird restauriert in liebevoller Arbeit, bevor es unweigerlich irgendwann wieder Spuren aufweist. Kratzer und Risse und Lecks. Es sind die Zeichen eines Lebens. Abrieb ist nicht immer etwas Schlimmes. Wir leben mit diesem Abrieb, jeden Tag. Und dennoch kümmern wir uns um uns selbst und um die Gebäude, die unser Zuhause sind. Irgendwann verfallen diese Gebäude. Einige Teile ihres inneren werden gerettet und wiederverwendet, andere verlieren sich im Laufe der Geschichte. So ist das Leben. Es ist ein Anfang und ein Ende zugleich.
Und deswegen möchte ich die Geschichte einiger Gebäude auf der Insel Juist erzählen, die als stillschweigende Zeitzeugen dabei waren. Wenn diese Wände sprechen könnten!



Haus Siebje.
Das alte Insulanerhaus im neuen Glanz.
Adresse: Friesenstraße 21
Ich denke, jeder und jede kennt das Haus Siebje. Aber warst du auch schon mal drinnen? Im Inneren des Hauses erwartet dich mehr, als du auf den ersten Blick vermuten würdest. Aber erstmal: Wenn du groß bist, Kopf einziehen! Und wenn du, so wie ich, ein bisschen ungeschickt sein kannst: Runter schauen! Das alte Insulanerhaus hat ein paar Schrittfallen anbei. Schon der erste Schritt ins Innere wird zur Stolperfalle. Also immer gut aufpassen!
Haus Siebje wurde 1811 erbaut und ist wirklich eine kleine Perle mitten im Ort. Es strahlt wunderbar hell und auffällig direkt neben dem Januspark. Das alte Häuschen katapultiert dich zurück in eine Zeit, in der die Menschen auf Juist ganz anders lebten, als das heutzutage der Fall ist. Haus Siebje wurde aufwendig durch den Heimatverein drei Jahre lang von 1983 bis 1986 restauriert. Das Haus wird – architektonisch korrekter, als ich das eben betan hat – wie folgt beschrieben: „traufständiger eingeschossiger verputzter Backsteinbau unter ziegelgedecktem Satteldach, rückwärtig mit Abschleppung, erneuerte Hebefenster“. Direkt gegenüber vom Haus Siebje findest du noch ein wunderschönes altes Insulanerhäuschen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts erbaut wurde und in dem noch heute Menschen leben, anders als in Haus Siebje, das der Öffentlichkeit zugänglich ist.
Einmal drinnen angekommen, erwarten dich diese kleinen Schätzchen:
- Direkt links: Elfember – Ein schmucker, kleiner Laden für Handgemachtes mit allerlei, das einen grinsen und innehalten lässt
- Direkt rechts: Eine Stube voller Geschichte, in der Juist von früher porträtiert wird, ehemaliges Arbeitzimmer von Martin Luserke, der als Lehrer und Pädagoge an der Schule am Meer tätig war
- Links, aber nach oben: Das Archiv des Juister Heimatvereins ist eine wahre Schatzkiste voller Fundstücke. Das Archiv ist nicht einfach so zugänglich, aber wenn zum Beispiel der Lebendige Adventskalender ansteht, öffnet das Archiv seine Pforten und du darfst dich umschauen. Das ist echt ganz große Klasse, was dort alles zu finden ist!
- Gerade aus nach hinten durch: Ein Ausstellungsraum, in dem in der Saison verschiedene Kunsthandwerker*innen und Künstler*innen ihre Werke ausstellen. Unbedingt vorbeischauen!
Lütje Teehuus
Das Haus der Badefrau – heute ein Ort für die Teetied
Adresse: Dünenstraße 2
Das Lütje Teehuus kennst du bestimmt. Es ist die perfekte Einkehrmöglichkeit nach einem langen Strandspaziergang, ein Kleinod der Gemütlichkeit. Aber wusstest du, dass genau dieses Häuschen mitunter zu den ältesten Gebäuden der Insel gehört? In diesem Haus lebte einst Oma Miele, die nicht nur für ihre Kuchenkreationen Berühmtheit erlangt hat, sondern auch als Badefrau Prominenz erlangte. Miele, die eigentlich Ehmine Raß hieß, war legendär dafür, welch spannenden Geschichten sie erzählte, von Gott und der Welt und Juist und mitunter von all den Dingen zwischen Himmel und Erde, an die man nicht glaubt. Die einstige Badefrau half den Gastdamen dabei, in der Nordsee therapeutische und heilsame Bäder zu nehmen.
Und heute lässt du dir Tee, Kuchen und allerhand deftige Gerichte in ihrem Wohnzimmer schmecken, wenn du im Lüttje Teehuus einkehrst. Noch heute ist das Teehuus voller Andenken und Souvenirs, die ihren Geist lebendig halten.


Billsiedlung.
Verlorene Gebäude, die wieder zum Vorschein kommen.
Ich weiß noch ganz genau, dass ich mich gefragt habe, wie diese Gebäudeteile von welcher Flut an den Strand gespült wurden. Ich war an der Bill unterwegs und aus dem Strand schauten hier und da Steine, Metallstreben und sonst was. Sie gehörten zu einem Gebäude, zu einem Wohnhaus, würde ich denken. Sie mussten Überreste sein von Fundamenten und dergleichen. Ich denke mal, Überreste vom Billdorf, das sich dort mal befand. Oder auch nicht, aber ich stelle mir gerne vor, dass es stille Zeitzeugen von damals sind, die jetzt wieder zum Vorschein kommen.
Damals, im 17. und 18. Jahrhundert, gab es zwei Dörfer auf der Insel: Das Billdorf und das Loogdorf. Durch Stürme und Wind, durch die Kräfte der Natur, kam es, dass 1717 in der Weihnachtsflut das Billdorf 9 der 18 Häuser und die Kirche verlor. 28 Menschen ertranken. Eine Katastrophe. Das Billdorf wurde nicht wiederaufgebaut. Die Menschen zogen weg in Richtung Osten, wo sie etwas geschützter wären vor all den Naturgewalten.
Kirchen auf Juist.
Juister Kirchen, von denen nur noch zwei erhalten sind.
Heute findest du auf Juist zwei Kirchen, eine katholisch direkt am Strandabgang in der Nähe des Janusparks und eine evangelisch quasi in Sichtweite des Kurplatzes, beide mitten im Ort. Aber das war nicht immer so. Lange gab es „nur“ eine evangelische Kirche, denn die Juister waren Protestantinnen und Protestanten.
Katholische Kirche auf Juist.
Adresse: Dünenstraße 4 / 16
Die Geschichte der katholischen Kirche ist nicht so lang, wie die ihrer evangelischen Schwester, aber ebenfalls beeindruckend: Die katholische Kirche auf Juist gibt’s seit 1910. Sie entstand auf Initiative der Gäste, denn die Juisterinnen und Juister gehören zumeist der protestantischen Konfession an. Aber die Gäste kamen oft aus dem Rheinland und Westfalen, waren katholisch und wollten gerne die Heilige Messe feiern können. Eine Zeitlang behalf man sich damit, einen Raum in einem Hotel zu mieten, aber das war natürlich keine Dauerlösung. So gründete sich ein katholischer Strandclub, dessen Bestreben es war, eine katholische Kapelle auf Juist zu erbauen. Ganz schön beeindruckend!
1909 stellte die Gemeinde ein Grundstück. Im gleichen Jahr erfolgte der erste Spatentisch und schon im Folgejahr, in 1910, wurde die erste Messe in der neuen katholischen Kirche gefeiert. Die Kirche wurde den Schutzengeln gewidmet – und das siehst du auch, denn vor der Pforte der Kirche erwartet dich ein Kunstwerk, ein Engel, den die Juister Kinder manchmal „Karateengel“ nennen. Ein bisschen so sieht das auch aus. Die Widmung als Schutzengel – woher die Idee kam, ist nicht ganz klar, aber der Gedanke liegt nahe, dass man anhand der Geschichte der evangelischen Inselkirchen (die wir gleich später erzählen), wie leicht eine Kirche zerstört werden kann. Sturm und Wetter und Wind und das Meer gefährden die Kirchengebäude auf Juist. Da schadet es sicherlich nicht, wenn die Kirche einen Schutzengel hat. Denkbar ist aber auch, dass es eine Erinnerung an die vielen Kinder war, die einen Schutzengel brauchen konnten, wenn sie auf der Insel in den Kindererholungsheimen waren.
Wichtig für die katholische Kirche auf Juist ist auch der Grundgedanke des Schweigens – passend zum Thema dieses Beitrags: Stillschweigende Zeitzeugen. Morgens und abends finden Schweigemeditationen statt. Auch Exerzitien werden angeboten und möglich gemacht.
Im Inneren der Kirche finden sich maritime Fenster aus dem Jahr 1997, kreiert von Tobias Kammerer, und hergestellt von einem Wiesbadener Glasstudio. Sie passen nicht so richtig in eine Kirche, finde ich, denn sie sehen ziemlich säkular aus. Hinten im Altarraum finden sich zwei Fenster von 1909, die eher in eine Kirche passen, wie ich finde. Eines zeigt einen namensgebenden Schutzengel und das andere zeigt Nikolaus, den Patron der Seefahrer. Ziemlich passend für Juist!



Evangelische Kirche auf Juist.
Adresse: Wilhelmstraße 42
Wer die heutige evangelische Kirche auf Juist kennt, weiß: Vor allem von außen ist hier alleinstehender Kirchenturm, der Campanile, markant. Auch bekannt als „Rakete“ oder „Bleistiftspitze“ (sehr passende Namen, wie ich finde!), ist der Turm 22,5 m hoch. Im inneren der Kirche angekommen, die 1964 erbaut wurde, findet sich das auffällige Altarbild, das eigentlich ein Mosaik aus 36.000 Steinchen besteht und vom Juister Kunstlehrer Herbert Gentzsch. Auch Kanzel, Alter und Abendmahlsbild stammen aus den vorherigen Inselkirchen.
Die insgesamt fünf Vorgänger der heutigen Inselkirche befanden sich fast alle weiter westlich und fielen dem Sturm und dem Meer zum Opfer.
Die erste Inselkirche wurde um 1400 erbaut. Ihr Turm war 57 m hoch und wurde als Seezeichen auf offiziellen Karten vermerkt und half damit den Seefahrern beim Navigieren. Die erste Inselkirche befand sich nördlich des heutigen Hammersees, wurde aber 1651 beinahe zerstört, als die Petriflut die Dünen durchbrach und der Hammersee entstand. Das Pfarrhaus musste bereits abgerissen und neu gebaut werden. 1657 bis 1660 stürzten mehr und mehr Bereich der Kirche ein, bis man sie schließlich vollends aufgeben musste.
Die Nachfolger-Kirche wurde aus den Steinen der ersten Inselkirche erbaut, diesmal aber am nordwestlichen Rande des Ostlandes auf höheren Dünen, auf der anderen Seite des damaligen Hammersees, der eigentlich noch „nur“ ein Durchbruch war. Die Kirche war klein – maß wohl ca. 11 x 5,7 m. Doch auch diese Kirche wurde mehr und mehr durch Sturm und die See angegriffen. 1687 zogen die Menschen, die in der Nähe der Kirche ihre Häuser hatten, weg, doch die Kirche wurde weiterhin genutzt. Bis sie 1715 durch die Fastnachtsflut zerstört wurde.
Danach gab es zwei Kirchen gleichzeitig – eine im Loogdorf und eine im Billdorf. Du musst bedenken: Die Insel Juist hatte damals noch eine andere Form. Das Billdorf lag westlich auf der Insel und das Loogdorf im Osten. Beide Kirchen waren recht klein (ca. 10 x 7 m) und besaßen keinen Kirchturm. Die Insulaner und Insulanerinnen hatten tatsächlich nicht die Mittel, um diese Kirchen zu bauen, also wurde auf dem Festland im Fürstentum Osnabrück Geld gesammelt für die Kirchen auf der Insel. Bereits 1717 wurde die Kirche im Billdorf durch eine Sturmflut zerstört – wie ihre Vorgänger ebenfalls. Auch das Billdorf litt: Neun der 18 Häuser dort wurden zurückgelassen. Die Menschen zogen ins Loogdorf. Die Kirche aber blieb bis 1731 unbenutzt, eher Ruinen, als sonst etwas. Auch das Loogdorf zog mehr und mehr in Richtung des heutigen Hauptortes, bis 1770 bis 1780 die meisten Menschen im Hauptort lebten.
Die fünfte Inselkirche dann wurde gebaut, weil die Loogkirche zu klein wurde. 1780 wurde dann eine neue Kirche gebaut, aber der Kanzelaltar aus 1732 wurde aus der Kirche im Loog genommen und weiterhin genutzt. In der Zeit der holländischen Herrschaft und der französischen Besatzung wurde die Kirche mitunter als Festung genutzt – und für diesen Zweck auch ordentlich umgebaut. 1816 endete die Besatzungszeit und zwei Jahre später wurde die Kirche wieder hergerichtet als Gotteshaus. 1898 wurde die Kirche aufgrund des steigenden Gästeaufkommens erweitert. 1925 gab es dann die erste Orgel für die Kirche.
Die fünfe evangelische Inselkirche wurde 1962 abgerissen und in den zwei Jahren, bevor die heutige Kirche ihre Pforten öffnete, fanden die Gottesdienste in der Kurhalle statt.
Eine abwechslungsreiche Geschichte, wie du siehst!



Stille: Wenn nichts mehr zu sagen ist.
Die stummen Juister Zeitzeugen.
„Wenn Wände sprechen könnten …“: Ja, wenn Wände sprechen könnten. Welche Geschichten würden sie erzählen? Würden sie von Leid oder von Hoffnung sprechen? Ginge es in ihren Geschichten um Not oder Freude? Keine Ahnung, aber ich weiß, dass diese Wände unendlich viele Schicksale gesehen haben müssen. Familientrennungen und Wiedersehen, Leiden und Freud, Geburten und Todesfälle. Das Schicksal der kleinen Insel Juist, das sich immer und immer wieder wandelte. Das Gesicht der Insel hat sich verändert – ihr Umriss, ihre Lage. Aber eines ist geblieben: Die Menschen auf ihr formen noch immer Gebäude. Sie leben noch immer in diesen Wänden. Und wenn Wände sprechen könnten, hätten sie unzählige Geschichten zu erzählen, die es so nur auf einer Insel geben kann.
Wenn diese Wände sprechen könnten …