Juistine.
Das Rätsel der Sandbank?
Am Ende gilt doch nur, was wir
Arthur Schnitzler
getan und gelebt – und nicht, was wir ersehnt haben.
Juist erlangt wohl das erste Mal internationales Renommee, als Erskine Childers‘ Roman „Das Rätsel der Sandbank“ 1903 erschien. Im Original als „The Riddle of the Sands: A Record of Secret Service“ erschienen, beschreibt der Roman die Erlebnisse zweier Briten im Juister Watt.
Juist erlangte dann nochmal aus tragischen Gründen internationalen Ruhm. Und genau diese Geschichte möchte ich in diesem Artikel gerne erzählen – nicht aus Faszination, sondern weil manche Geschichten einfach nicht vergessen werden sollten.
Als ich mir in diesem Monat Gedanken gemacht habe, was ich zum Thema „Grusel und Seemannsgarn“ schreiben konnte, hatte ich erstmal keine Idee. In meinem Kopf ist Juist nichts, das mich gruselt. Seemannsgarn ist nicht meine große Stärke. Ich mag die realen Geschichten, auch wenn sie noch so klein sind. Aber die Geschichte, die ich heute aufschreiben möchte, ist alles andere als klein.
Das hier wird eine längere Geschichte. Schnapp‘ dir einen Tee, wickele dich in eine Decke ein und leg‘ dir vielleicht schon mal ein Taschentuch zurecht, wenn du ebenso schnell emotional wirst, wie ich.
Juistines Schicksal.
Was ist ein Name?
Ein Grab.
Es ist ein unauffälliges Grab, am Rande des Friedhofs gelegen. Als ich es zum ersten Mal gesehen habe, war das von hinten. Also so richtig gesehen. Ich habe mir nämlich die Bank dahinter angeschaut. Erst dann bin ich rum und habe das wunderbar gepflegte und gehegte Grab zur Kenntnis genommen. Man muss wissen, dass es dort ist. Man muss mit offenen Augen durch die Welt gehen. Dann sieht man es. Zwei Daten, ein Name. Kein typisch norddeutscher, ostfriesischer oder gar deutscher Name. Ein Zugezogener, jemand, der wie viele andere das Glück hier gesucht hat, wegen der Liebe oder wegen des Geldes kam? Nein. Die Person mit diesem Namen hat Juist nie gesehen.
Viele Wohnungen und auch die Häuser auf der Insel haben wunderschöne Namen, oft assoziiert mit dem Wattenmeer, dem Strand, den heimischen Tieren, Inseln oder, oder, oder. Aber tatsächlich ist es ein Name, der mich immer aufhorchen lässt. Wer auch immer die Unterkünfte so benannt hat, erinnert damit an das Schicksal einer Frau, die eigentlich gar nichts mit Juist zu tun hatte. Trotzdem hat sie hier ein Refugium gefunden. Mich überläuft ein kleiner Schauder, wenn ich an diesen Namen denke, der gar nicht der richtige Name ist. Diese Geschichte ist so sehr aus dem echten Leben, dass es mich gruselt. Allen von uns könnte das passieren. Und das macht es für mich so real und so wichtig, darüber zu sprechen. Ich denke an diesen Namen und ich hoffe, dass dieser Name niemals in der Erinnerung der Menschen verschwindet.
Aber der Reihe nach.
Ich recherchiere meistens übers Internet (auch googeln genannt). Also tue ich das, was halt der erste Schritt ist: Ich mache Google auf und tippe ein Wort ein. Ich scanne die Suchergebnisse und öffne die passenden Seiten in neuen Tabs. Dann gebe ich ein anderes Suchwort ein und öffne wiederum die spannend erscheinenden Seiten. Wieder und wieder tue ich das. Dabei stoße ich auf interessante Seiten, die gar nichts mit Juist zu tun haben: Auf eine Berliner Zeitung, auf eine österreichische Zeitung. Ich lese die Artikel mit großer Spannung und einem kleinen Kloß im Hals. Ich merke, dass ich mich mehr und mehr in diesem Thema verliere, wie ich mich wirklich zu interessieren beginne, wie in mir der Wunsch wächst, mehr zu erfahren, besser zu verstehen.
Juistine: Der Fund.
Der Strand ist noch menschenleer, die Vögel singen entfernt, der Wind weht leise, die Wellen spielen ihr endloses Spiel. Es ist der 14.11.2001. Es muss kalt gewesen sein und der Wind schneidend. Ich kann es mir nur zu gut vorstellen. Ungemütlich sind die November auf dem Töwerland. Sie erinnern uns daran, wie stark der Einfluss der Nordsee und des Windes auf diese 17 km lange, aber nicht mal einen Kilometer breite Sandbank ist, die so manche ihr „Refugium“ nennen. Es ist kein schönes Wetter, es ist Wetter, das beständige Kleidung erfordert, bei dem man draußen sein will. Man muss schon recht hartgesotten sein, um so ein Wetter so richtig zu genießen.
Eine 30-jährige Frau – ich weiß nicht, ob sie Juisterin, Zugezogene, Insulanerin oder Urlauberin ist – ist am Strand unterwegs. Menschenleer war es dann vielleicht, keine andere Seele unterwegs. Man hat das Gefühl, alleine auf weiter Flur zu sein. Der menschenleere Strand hat etwas Besonderes. Als wäre etwas verheißen. Vielleicht war es dunkel oder stürmisch. Die Sicht mag schlecht gewesen sein. Die 30-Jährige entdeckt etwas. Sie geht wohl unsicher und vielleicht auch etwas neugierig auf dieses Etwas zu. Was es wohl ist? Etwas Treibgut, ein verletztes Tier, ein Stück Strandgut? Sie kommt näher und näher. Ein Schritt nach dem anderen. Dann erkennt sie es. Vielleicht will sie erst gar nicht wahrhaben, was das sein soll. Es dauert bestimmt eine Sekunde, bis sie versteht, was sie da sieht. Die bekannte Schocksekunde. Vielleicht gefolgt von einer Starrheit, von Überraschung und Abscheu und Angst. Denn es ist kein alltäglicher Anblick: Die Frau hatte eine Leiche entdeckt. Die Leiche lag auf der linken Seite, die Beine an der Hüfte abgeknickt, der BH um den Hals gewickelt, die Unterhose hing an den Knien fest. Muscheln hatten sich an ihren Gebeinen festgesetzt. Es ist eine Leiche, kein Mensch mehr. Im ersten Moment zumindest. Wie viel Haut noch da war, wie viel Muskeln und Sehnen, das möchte ich mir nicht zu genau vorstellen müssen.
Ein skurriler Anblick, da bin ich sicher. Etwas, das die Frau wohl absolut nicht erwartet hatte an diesem Morgen. Und noch seltsamer, zeitlich so weit entfernt darüber zu schreiben.
Man findet schnell heraus, dass sie ein ganzes Jahr in der Nordsee getrieben haben muss, bevor sie auf Juist am Strand angetrieben wurde, die Tote. Denn es ist eine Frau, das wird schnell klar.
Juistine: Michael Scheffer.
Diese Geschichte beginnt und endet mit Michael Scheffer. Irgendwie. Er ist Kriminaloberkommissar aus Norden, ein Polizist in einer kleinen Stadt. Und er war es auch, der irgendwie ein Held ist. Es geht nicht um Superkräfte oder darum, eine ganze Stadt vor einem Asteroiden zu retten. Nein, ich denke, Michael Scheffer ist ein Held für so viele Menschen, weil er ihnen Frieden gebracht hat. Und dieser Gedanke macht mich wirklich emotional.
Er hat in seinen Jahren bei der Polizei jede Leiche identifizieren können. Wie viel Recherche und Arbeit und Herzblut das gekostet haben muss? Für mich unvorstellbar. Ich stelle ihn mir als Vollblut-Kommissar vor, jemand, dem jede einzelne Leiche wichtig ist, der alles tut, um sie zu identifizieren. Oder anders ausgedrückt: Jeden Menschen hat er zu seiner Familie zurückbringen können. Unvorstellbar, was das für die Liebsten bedeutet haben muss! So vielen Menschen muss er Gewissheit gebracht haben nach langer, langer Zeit voller Bangen und Hoffen und Schmerzen.
Michael Scheffer kam mit dem Flugzeug von Norden nach Juist, nach dem der Inselpolizist ihn gerufen hatte. Eine Wasserleiche kannte man auf Juist wohl auch noch nicht, denke ich. 2001 – da war die Welt noch langsamer.
Michael Scheffer ist der Held dieser Geschichte – einer davon. Und das, was Juistine geschehen ist, ist der echte Grusel in unserer realen Welt.
Juistine: Die Suche.
Schnell stellt sich heraus, woher die Kleidung der Strandleiche kam: Schuhe und Unterwäsche von „Marks and Spencer“, silberne Armbanduhr von „Sekonda Quarz“, Kleidung von British Home Stores. Englische Marken. War sie also Engländerin?
Die Füße unter den Mokassins waren erhalten. Ein gruseliger Fakt. Viel ihrer Haut –wenn nicht gar alles von Haut, Sehnen, Muskeln – war zerstört worden innerhalb des Jahres, indem sie im Wasser getrieben ist. Doch die Füße waren noch intakt. Es gruselt mich, wenn ich darüber nachdenke, dass es eine reale, echte Person ist, über die wir sprechen, nicht ein Ding. Ein Mensch mit Angehörigen, mit Liebsten und mit Hoffnungen und Träumen und allem, was sonst so zum Leben eines Menschen dazugehört.
Also war sie Britin? Die Indizien an ihr lassen die Polizei genau das glauben. Dazu die Strömungsrichtung des Wassers in der Deutschen Bucht: Von der britischen Küste könnte sie ihren Weg durch das Meer nach Juist gefunden haben. Auf eine Insel, die wohl den wenigsten Engländerinnen und Engländern überhaupt ein Begriff ist.
Die Leiche selbst ließ lediglich einige wenige Schlussfolgerungen zu: Man hatte eine Frau gefunden. Ungefähr 1,75 m groß, weiß, in etwa 30 Jahre alt. Jung also. Ungewöhnlich war, dass die Frau nach einem Jahr im Wasser noch so erkennbar war. Normalerweise würden weitaus mehr Knochen fehlen. Dass sie mit dem Alter fast 25 Jahre daneben lagen, erfuhren sie später.
Ebenso schnell findet man heraus, dass die Zähne komplett erhalten waren. Ein Hoffnungsschimmer: Kann man sie identifizieren? Immerhin gibt es Zahnarztakten, die verglichen werden können.
Die Todesumstände aber sind ungeklärt. Ein Unfall? Mord? Totschlag? Niemand weiß es. Durch ein Jahr im rauen Wasser der Nordsee sind kaum Spuren übrig, die verfolgt werden können. Ein vielleicht unlösbares Puzzle. Schrecklich wäre das.
Der Mensch ist erst wirklich
Berthold Brecht
tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.
Kaum mehr als blanke Knochen sind übrig von einer Person, die einst Träume, Wünsche, Hoffnungen, eine Familie, Freunde, geliebte Menschen gehabt hatte. Es ist seltsam, sie „die Leiche“ zu nennen, auch wenn es stimmt. Ich bin nicht die einzige, die das so empfindet. Schon früh wird sie „Juistine“ genannt und irgendwie berührt mich das sehr. Es war der Kommissar Michael Scheffer, der auf den Namen gekommen ist. Wie auch hätte er sie sonst nennen sollen? Wusste er doch kaum mehr als, dass man sie hier gefunden hatte, hier auf dem Töwerland, das eigentlich ein Urlaubsparadies ist, das einem Sicherheit suggeriert. Schließlich lassen die Leute hier ihre Haustüren manchmal offen stehen oder der Glaube an das Gute ist so stark, dass Handtaschen mit Geldbörsen in Fahrradkörben vergessen werden. Es ist heile Welt. Eine Idylle hier. Nicht perfekt, natürlich nicht, aber doch anders als in der Großstadt, anders als auf dem Festland. Dann wird da plötzlich eine Leiche gefunden. Ein toter Mensch.
An Juistine sind keine Spuren von Gewaltanwendung zu finden – keine Löcher oder gebrochenen Knochen. Kurzes Aufatmen. Ein natürlicher Tod? Alles nicht ganz so grausam, wie es im ersten Moment klang, eine nicht ganz so schlimme Tragödie? Es passiert, was in so einem Fall vielleicht einfach passieren muss: Die Hoffnung wird gedämpft. Es ist ein durchgehendes Thema im Fall Juistine: Erst flammt Hoffnung auf, dann verläuft sie im Sande und der Grusel lebt wieder auf. Michael Scheffer gibt innerhalb der Hoffnung, dass Juistine eines natürlichen todes gestorben ist, zu bedenken: Viel von ihr ist ja nicht mehr. Niemand kann mit Bestimmtheit sagen, wie sie gestorben ist. Das Rätsel um Juistine besteht also weiter.
Michael Scheffer wendet sich ans LKA in Niedersachsen, das Landeskriminalamt, in der Hoffnung, Hinweise zu erhalten, Zahnarztakten abzugleichen oder sonst eine Spur finden zu können, wer sie war. Aber nichts kommt dabei raus. Der nächste Schritt führt ihn zum BKA – dem Bundeskriminalamt. Ebenfalls Fehlanzeige. Immer wieder: Hoffnung auf Unterstützung, auf einen Hinweis, auf eine Lösung, auf einen echten Namen. Dann jedes Mal: Enttäuschung. Aber Michael Scheffer gibt nicht auf. Und das System Polizei (sei es seine Dienststelle, seine Kollegen oder sonst jemand) macht es ihm möglich, unermüdlich und leidenschaftlich und brennend nach Juistines Geschichte zu suchen. Also noch einen Schritt höher: Interpol.
Interpol.
Interpol (eigentlich: International Criminal Police Organization) ist eine internationale Polizeieinheit, die in 196 Ländern aktiv ist – unter anderem in Deutschland und dem Vereinigten Königreich. Interpol verbindet Daten über Fälle und Kriminelle, sodass die einzelnen Polizeibehörden Zusammenhänge über Landesgrenzen hinaus herstellen können. Und genau das wollte Michael Scheffer ja erreichen.
Erst Hoffnung, dann Enttäuschung. Alle setzen viel Hoffnung in Interpol. Aber allgemeine Überlastung. Nach den Terroranschlägen vom 11. September in den USA ist so viel zu tun, dass niemand mehr hinterherkommt. Heute finde ich die Vorstellung wirklich unvorstellbar: Aber im Jahre 2001 galten andere Regeln. Die Arbeit ging langsamer voran, die Technik konnte noch nicht so unterstützen, wie das heute der Standard ist. Alle Ressourcen richteten sich darauf, die Terroristen der al-Qaida zu finden. Das war das Non-Plus-Ultra. Auch in Europa muss die Angst vor einem Terroranschlag solchen Ausmaßes allgegenwärtig gewesen sein. Alles andere erschien unwichtig. Vielleicht. Auch wenn es das nicht war. So waren wohl alle Beamtinnen und Beamten mit der Terrorsuche beschäftigt und Fälle vermisster Menschen oder nicht identifizierbarer Leichen blieben liegen.
Juistine ergeht es erstmal so, wie leider so vielen anderen Fällen ebenfalls. „Fälle“: Menschen. Das darf man nie vergessen. Hinter jedem Fall, der nicht gelöst wird, ist ein Mensch, der ums Leben gekommen ist, der Freunde und Familie und geliebte Menschen hatte.
Michael Scheffer ist einfallsreich: Er benachrichtigt einen Korrespondenten der BBC, der es seinerseits schafft, einen Radiobeitrag in England zu platzieren, über Juistine und die Suche nach ihrer Identität. Wieder Hoffnung und wieder Enttäuschung. Nicht mal der Radiobeitrag in Großbritannien zeigt Wirkung: Es kommen keine Spuren ans Licht.
Das schönste Denkmal, das ein
Albert Schweitzer
Mensch bekommen kann, steht in den Herzen der Mitmenschen.
Vermisst niemand Juistine? Unvorstellbar! Nein, irgendwo in Großbritannien ist jemand, der Juistine vermisst und der nachts nicht schlafen kann vor lauter Sehnsucht und Angst. Sie war eine von knapp 67.000.000 Menschen im Vereinigten Königreich, denen genau das gleiche Schicksal hätte geschehen können.
Doch der Korrespondent namens Rob Broomby setzt sich ebenfalls ein. Michael Scheffer sowieso. Gemeinsam schaffen sie es, dass bald darauf auch die Tageszeitungen in England über Juistine berichten. So auch die großen Namen wie die Times, The Guardian oder The Independent.
Was die Presse wohl nochmal anspornt: Der Fall um Juisterine, der auf Juist spielt und einen deutlciehn Bezug zu Großbritannien aufweist, erinnert an „Das Rätsel der Sandbank“ (im Original: Riddle of the Sands). Es ist ein Spionageroman, der ebenfalls auf Juist gespielt hat und 1903 von Robert Erskine Childers geschrieben wurde. In Großbritannien geben die Medien schnell Juistines Fall den gleichen Spitznamen – The Riddle of the Sands.
Das Rätsel der Sandbank.
Worum geht’s im Roman „Das Rätsel der Sandbank“ von Erskine Childers? Ein Engländer wird von seinem ehemaligen Studienkollegen zur Entenjagd in der deutschen Nordsee eingeladen. Nach und nach stellt sich heraus, dass der Studienkollege eigentlich Seekarten für die britische Admiralität von der deutschen Küste erstellen will. Ein bisschen Liebe und Verrat gehören ebenso zur Geschichte, wie die Moral am Ende: Die beiden Männer kommen einem Invasionsplan des deutschen Militärs auf die Schliche.
Aber zurück zur Realität:
Der Mediensturm in Großbritannien startet also. So, wie es ein Sturm nun mal tut: Erst langsam, dann schneller, immer, immer schneller, bis er wieder abbricht. Aber dennoch finden sich keine Spuren. Kann das sein? Ist das denn die Möglichkeit.
Erst: Hoffnung. Dann: Enttäuschung.
Juistines Leiden.
In all dieser Zeit leiden die Angehörigen. Juistines Eltern, Kinder, Geschwister, Freunde und Bekannte: Sie leiden und das seit über einem Jahr. Wie ist das, wenn man nicht weiß, wo jemand ist? Ob sie wiederkommt oder wie es ihr geht? Wünscht man sich irgendeine Nachricht, ganz gleich, welche? Michael Scheffer hat in seinen bis dato 33 Jahren bei der Polizei erfahren, dass selbst die schlimmste Nachricht besser ist, als Unklarheit. Er möchte Juistines Liebsten Klarheit verschaffen.
Juistine: Die letzte Ruhestätte.
Wahre Würde ist leise und unaufdringlich. Sie bietet kein Ziel. Sie ist
Gerd Peter Bischoff
eine spürbare Hülle aus Weisheit, Güte und Gewissheit
Über die Ostfriesen und Ostfriesinnen sagt man ja gerne, sie seien wortkarg und zugeknöpft. Ob das so ist, mag ich nicht beurteilen. Aber für Juistine haben sie so viel getan. Mein Herz schmilzt, wenn ich mir das überlege.
Noch heute kann man ihr Grab auf dem Dünenfriedhof besichtigen. Ihr richtiges Grab. Mit ihrem echten Namen. Und auch eine Bank steht dort, im Gedenken an ihr Schicksal. An Juistine, von der die Juisterinnen und Juister vor ihrem Fund nie etwas gehört hatten, die sie nicht kannten. Nichts hat sie mit ihr verbunden und dennoch haben diese Menschen Juistine ihr Herz geöffnet und alles für sie getan, was sie konnten: Sie wurde mit allen Ehren beerdigt. Ich stelle mir eine geschmückte Kutsche vor, die langsam durchs Dorf gerollt ist, Menschen, die jemandem die letzte Ehre erweisen, den sie nicht kannten. Eine der wohl schönsten Ruhestätten, die man sich vorstellen kann, mitten in den Dünen. Friedlich und leise, fernab von der schrecklichen einjährigen Odyssee, die sie hinter sich hatte. In einem Artikel wurde das Grab als schlichtes Holzkreuz beschrieben, geschmückt mit einem Moosgesteck in Form eines Herzens und ein Tannengebinde.
Heute ist es das immer noch. Als ich das Grab zum ersten Mal gesehen habe, war da kein Schmuck. Aber es war in Ordnung gehalten. Kein Unkraut. Aber es war Winter. Wenn dort Blumen wachsen, dann waren sie saisonbedingt nicht zu sehen. Als ich es das zweite Mal gesehen habe, sind dort bunte Blumen gesprießt. Fast schon fröhlich. Wie eigentlich total unpassend für einen Friedhof. Und dennoch hat es gepasst, wenn ich darüber nachdenke. Jemand pflegt ihr Grab. Jemand, der sie nicht kennt. Seit über 20 Jahren pflegt jemand ihr Grab auf Juist, jemand, der darüber kein Wort verliert. Es ist eine kleine Aufmerksamkeit im Großen und Ganzen, aber es ist eine Geste, die einem die Tränen in die Augen treiben kann.
Würde ist ein inneres Leuchten. Ein Glanz der Seele. Unberührbar.
Gerd Peter Bischoff
Wolfgang Zobel war dabei, als die kleine Zeremonie stattgefunden hat, während der Juistine beigesetzt wurde.
Ich weiß nicht mehr genau, wo ich das gelesen habe, aber irgendwo stand, dass ihr Grab von Kindern mit Muscheln und Blumen dekoriert worden ist. Ob die Kinder verstanden haben, was sie da taten: Keine Ahnung. Aber das spricht doch schon Bände über das gute Herz im Angesicht eines solchen Grusels. Die Erwachsenen jedenfalls haben also eine Beerdigung in allen Ehren durchgeführt.
Michael Scheffer warf einen passenden Punkt auf. Die Ur-Juister (ich sag das jetzt mal so direkt und übertrieben) kennen das seit Generationen. Sie leben mit dem Meer, am Meer. Sie kennen die Natur und was sie mit ihrem Eiland anrichtet. Sie alle haben wohl schon mal jemanden verloren, der auf See geblieben ist. Seefahrer und Fischer und Soldaten. Traurige Schicksale. Noch heute – und vielleicht besonders heute, da man kaum noch jemanden kennt, der auf See geblieben ist – findet sich eine Stele auf dem Dünenfriedhof, den Menschen gewidmet, die auf See geblieben sind.
Viele von den Menschen, die auf Juist beigesetzt wurden, aber deren Familien von woanders kommen, wurden in ihre Heimat überführt, so auch die in Dünkirchen gestorbenen und auf Juist angeschwemmten Soldaten, die im Zweiten Weltkrieg gefallen sind. Sie hat man damals ebenfalls mit allen Ehren und unter christlichen Riten bestattet. Das lässt mich etwas lächeln. Zu diesem Zeitpunkt müssen die Soldaten fast noch die „Feinde“ gewesen seien und dennoch hat man für sie getan, was man konnte.
Und doch liegt Juistine heute immer noch zur Ruhe gebettet auf dem Juister Dünenfriedhof, umgeben von Natur und Wellen, so nah an der Nordsee, so weit entfernt von ihrer Heimat.
Avril.
Und am Ende wurde das Rätsel gelöst. Viel mehr aber ist passiert. Durch die unermüdliche Arbeit unseres Helden Michael Scheffer hat Juistine einen Namen bekommen. Ihre Familie bekam Antworten.
Aus der Presse erfuhr eine Frau von Juistine. Sie vermisste ihre 54-jährige Mutter, eine Therapeutin.
Und tatsächlich: Es war Juistine.
Juistine, die eigentlich Avril Quin hieß. Sie wurde 1947 geboren und starb 2001.
Avril Quin stammte aus Great Yarmouth, der östlichsten Stadt in der Grafschaft Norfolk, die sich selbst im Osten Englands befindet, direkt am Meer, mit ungefähr 47.000 Einwohner*innen. Ich stelle mir vor, wie sie am Strand entlang spaziert oder auf der Strandpromenade ein Eis isst. Gar nicht so anders als auf Juist. Eine seltsame Symmetrie.
Avril war traurig. Sie hatte sich schon vor ihrem Verschwinden für einige Monate schlecht gefühlt. Ihre eigene Mutter war todkrank und lag im Sterben. Das muss Avril wohl sehr schockiert haben, vermutete ihr Sohn, und alleine muss sie sich gefühlt haben. Während Avrils Verschwinden starb ihre Mutter. Nicht wissend, was Avril zugestoßen war. Auf dem Weg zum Krankenhaus verschwand Avril. Sie hatte das Auto eines Bekannten verlassen, sagte, sie wollte Freunde besuchen.
Noch heute weiß man nicht, ob sie einen Unfall hatte oder sich selbst etwas angetan habe. Das wird wohl auch immer ein Mysterium bleiben. Nur die See und Juistine wissen genau, was passiert ist.
Avrils Sohn, der zu dem Zeitpunkt 28 Jahre alt war und in Japan als Berater arbeitete, kam nach Juist. Es war Emily, Avrils damals 24-jährige Tochter, die die Britische Polizei verständigt hatte, nachdem sie einen Bericht in ihrer regionalen Tageszeitung gelesen hatte. Emily hatte nur kurz vorher die beschriebenen Schuhe und Kleider gekauft für ihre Mutter, in denen sie Monate später auf Juist gefunden wurde.
Avril Quin hatte man zuletzt am 11.10. des vorherigen Jahres gesehen. Fast ein Jahr also, indem ihre Familie voller Unsicherheit war und bangte, hoffte und wohl jeden Tag aufs Neue vor verlorener Hoffnung stand, nur, um am nächsten Morgen aufzustehen und wiederum zu hoffen, gegen jede Vernunft, dass Avril nach Hause kommen würde.
Juistine.
Avrils Familie reiste nach Juist: Das waren ihre Tochter, ihr Sohn, ihr Bruder und ihre Schwester.
Avrils Familie reiste also nach Juist. Ich stelle mir vor, dass sie keine Augen für die Natur oder das Meer hatten, dass sie den Strand meiden wollten und dass alleine die Überfahrt von Norddeich nach Juist durch das Wattenmeer, das ja zu dem Meer gehörte, dass ihre Avril so lange verborgen hatte, eine reine Tortur gewesen sein musste.
Aber sie haben den Friedhof besucht. Avrils Grab zierten frische Blumen. Sonnenblumen. Jemand hatte das Grab geschmückt, unwissentlich, dass Avrils Familie kommen und das sehen würde.
Avrils Kinder entschieden, dass sie ihre letzte Ruhe auf Juist finden würde – an einem Ort, dessen Menschen ihrer Mutter mit so viel Liebe begegnet waren, wenngleich niemand sie gekannt hatte. Einfach aus reiner Herzensgüte, aus dem Gedanken, dass sie sich freuen würden, wenn das jemand für ihre Familie tun würde, sollte ihnen etwas geschehen. Vielleicht auch aus Pflichtgefühl, aus einer alten Tradition, die mit dem Meer und den Naturgewalten zu tun hatte. Ich kann nur spekulieren, was die Gründe für die Sorge um Juistines Grab waren.
Die Bande der Liebe werden nicht mit dem Tod durchschnitten.
Thomas Mann
Emily, Avrils Tochter, sagte über die letzte Ruhestätte ihrer Mutter und die Menschen auf der Insel, die sich so um sie gekümmert hatten:
„Es ist perfekt. Das ist genau der Ort, den sie gerne gehabt hätte. Sie liegt begraben zwischen Dünen, Blumen und Tieren. Es ist nicht das Ende, das wir uns gewünscht hätten – dass Mama nach Hause gekommen wäre. Aber sie war selbst so eine liebevolle Person und sie würde es lieben hier, in so einer engen Gemeinschaft. Der Dünenfriedhof hier auf Juist ist der schönste Friedhof, den ich je gesehen habe.“
Es ist echter Grusel, solch eine Geschichte, aber vor allem zeigt sie Lichtblicke. Alles kann ein gutes Ende haben. Juistines Geschichte hat so viele Lichtblicke am Ende der Tunnel und sie hat so viele Helden hervorgebracht.
Helden.
So viele Helden aber blieben unbenannt. Schicksale wie Juistines gibt es so oft. Helden wie Michael Scheffer gibt es so oft. Und das stimmt mich positiv: Egal, wie schlimm es ist, ich kann lächeln, wenn ich an die Art und Weise denke, mit der sich Menschen um Juistine gekümmert haben, die sie nicht kannten, die ihr nichts schuldig waren und die dies einfach getan haben, weil es das Richtige war.
Menschen, nicht Orte, schaffen Erinnerungen.
Ama Ata Aidoo
Juistine: Abschlussgedanken.
Ich möchte hier noch eines sagen: Ich habe den Fall nicht live erlebt. Ich habe Stories gehört und alle möglichen Artikel gelesen, die ich gefunden habe, aber natürlich kann ich nicht erwarten, dass ich in der Lage bin, einen holistischen Einblick in den Fall und ihr Leben zu gewähren. Aber das ist vielleicht gar nicht so schlimm. Vielleicht geht es ja am meisten darum, nicht zu vergessen, wer Juistine war und wie viel von wunderbaren Menschen für sie nach ihrem Tod getan wurde.
In diesem Monat sollte es eigentlich um Grusel und Seemannsgarn gehen. „Seemannsgarn“: Beim ersten Hören eine erfundene Geschichte mit leichten, wenn nicht gar seichtem Tenor. War ich noch nie ein großer Fan von. Dennoch wollte ich etwas schreiben, das gruselig ist. Etwas, das uns allen passieren kann. Am Ende ist es eine Geschichte über Lichtblicke geworden, finde ich, eine Geschichte über Helden des Alltags, deren Handlungen uns so viel geben können. Und irgendwie gehören die Lichtblicke doch auch zum Grusel dazu.
Ebenfalls empfehlenswert und weitere Quellen zu Juistine:
Der Podcast Friesenzeit, der die Legende von Juistine in knapp 10 Minuten erzählt: https://www.podcast.de/episode/616866240/friesenzeit-legende-von-juistine
Die Erinnerungsstätten auf dem Dünenfriedhof: http://www.heimatverein-juist.info/grab.html
Die Gedenkstelen an die auf See Gebliebenen: https://www.juist-stiftung.de/anonymes-urnenfeld/
Derstandard.at, Print-Ausgabe 04.06.2002, Elmar Haardt aus Norden: https://www.derstandard.at/story/970613/langer-weg-zur-letzten-ruhe
Berliner Zeitung, Andreas Förster, Beate Steinhorst, 20.04.2002: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/auf-einer-nordseeinsel-wird-eine-frauenleiche-angetrieben-ein-polizist-will-unbedingt-wissen-wer-die-tote-war-einen-namen-hat-er-ihr-schon-gegeben-juistine-und-der-kommissar-li.915595
Berliner Zeitung, Andreas Förster, 10.08.2002: https://www.berliner-zeitung.de/archiv/die-auf-juist-angespuelte-tote-war-eine-54-jaehrige-britin-das-raetsel-um-juistine-ist-geloest-li.764349
The Guardian, John Hooper, 07.08.2002: https://www.theguardian.com/uk/2002/aug/07/johnhooper