Runterschauen.

Guck mal runter!

Im Urlaub schaut mal ja meistens nach oben in die Wolken oder um sich rum in die Weltgeschichte. Aber heute möchte ich euch erzählen, warum das Runtergucken fast schon eine verlorene Disziplin ist. 

Wenn ich im Urlaub unterwegs in Städten bin, schaue ich meistens höchstens auf den Boden, um nicht in einen Haufen Hundehinterlassenschaften, ein Loch im Asphalt oder ein Kaugummi zu treten. Wenn ich wandern bin, sieht das natürlich anders aus: Da ist der Boden oft so uneben, dass man schlichtweg runtergucken muss, um sich nicht die Fußgelenke zu brechen. Zumindest ist das bei mir der Fall.

Klar – Der Blick nach oben in den strahlenden Himmel, zu faszinierenden Gebäuden oder auf Sehenswürdigkeiten, die einen fesseln, ist ja auch schöner. Zumindest, wenn die Alternative darin besteht, Waschbeton und Kieselsteine oder irgendwelche Fliesen anzusehen. 

Aber: Manchmal lauern kleine Wunder auf einen, wenn man auf den Boden schaut. Vor allem, wenn der Wind mal etwas heftiger unterwegs ist (solange nichts Schlimmes passiert, natürlich!).

Die kleinen Kunstwerke auf dem Boden.

ich bin zum Beispiel, als ich letztens in Hamburg war, im wahrsten Sinne des Wortes über einen total schönen Gullydeckel gestolpert, der es mir wirklich angetan hat. Die Leute um mich herum müssen sich auch überlegt haben, ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank habe, weil ich mit so viel Leidenschaft und in so seltsamen Positionen (komplett mit dicker Jacke in der Hand, Handy in der anderen, Schal und Haaren wegen Wind im Gesicht klebend und mit dickem Rucksack auf dem Rücken) den Boden fotografiert habe. Mehrfach. Also wirklich oft. Aber dieser Gullydeckel hat einfach so toll geglitzert und geschimmert mit dem Messing-Ornament in der Mitte, dass ich halt Fotos machen musste. 

Aber Gullydeckel sind natürlich nicht alles. Bestimmt kennt ihr das Inselmosaik an der Deichscharte, aber wie sieht’s mit dem Mosaik vorm Rathaus aus? Da ist nämlich das Juister Wappen zu sehen. Oft stehen Leute da einfach so drauf. Finde ich komisch. Würde ich selbst halt nicht machen. Mosaike und Malereien auf dem Boden haben etwas Erhabenes, finde ich. Da mache ich lieber irgendwelche Sperenzchen und sorge dafür, dass ich nicht auf dem Mosaik stehe. Jedenfalls liebe ich dieses Mosaik vor dem Rathaus. Das hat so was Unerwartetes, einfach mitten auf der Straße. Letztens hatte einer der Steine einen Sprung, kurze Zeit später fehlte genau dieser Stein dann ganz. Ist immer noch so, wenn ich hier tippe. Inzwischen fehlen zwei Steine. Aber mich stört es nicht. Im Gegenteil: Diese fehlenden Steine im Mosaik erzählen ja irgendwie eine Geschichte von vielen Menschen, die dort drauf getreten sind, auf dem Weg durch den Ort, Kopf voll mit Gedanken und Sehnsucht, von dem Einfluss des Wetters auf alles Material, das wir geschaffen haben.

Alles von Menschenhand gemacht. Da hat sich jemand vor dem Rathaus auf Juist wirklich Mühe gegeben, um einen Hingucker auf dem Boden zu erschaffen. Das Design, die Fertigung, der Einbau: Und wir stehen einfach drauf, während wir warten, laufen einfach ohne einen zweiten Blick drüber. Schade eigentlich. 

Runter schauen: Offene Augen, offenes Herzen

lso, sollten wir alle mit offeneren Augen durch die Welt laufen und ständig auf den Boden schauen? Keine Ahnung. Manchmal denke ich: Ja, unbedingt!

Die Schönheit der Dinge lebt in der Seele dessen, der sie betrachtet.

David Hume

Lasst uns das mal etwas weiterdenken: In den Städten mögen es Gullydeckel sein, auf dem Land vielleicht eine ganz mutige Schnecke, die euren Weg kreuzt, und hier auf der Insel eine tolle Muschel oder ein besonders schöner Stein. Ich mache das manchmal, wenn ich hier spazieren gehe oder so. Dann schaue ich ganz bewusst auf den Boden. Im Winter und im nassen Herbst verfluche ich (mal leise, mal laut) die roten Steine auf dem Boden, die dann super rutschig sind. Morgens laufe ich dann meistens über die Straße und nicht den Fußweg, weil man da zumindest nicht ganz so schnell rutscht wie auf den roten Steinen. Im Sommer finde ich das unglaublich fotogen und schön, dass so viel hier rot ist. 

Irgendwer hat also irgendwann entschieden, dass nicht nur die Strandpromenade und die Häuser, sondern auch viele, viele, viele Fußgängerwege mit den roten Steinen gelegt werden sollen. Wo hat man das denn noch? In der Stadt begrüßt einen oftmals eine wilde Mischung aus Asphalt, gefüllten Löchern, Gullys und Fliesen. Nicht so richtig hübsch. Aber hier ist das Ortsbild relativ adrett: Rote Gehwege, Häuser aus roten Klinkersteinen, die engen Gassen … 

Noch schöner finde ich aber die Sandverwehungen auf der Strandpromenade. Manchmal sind das richtige Hügel, die man auch sieht, wenn man nicht auf den Boden schaut, aber oftmals sind es kleine „Sicheln“, die absolut faszinierend aussehen.

Strandfunde.

Vielleicht sind wir so dran gewöhnt, immer nach oben zu schauen, dass wir ganz vergessen, was unter unseren Füßen ist. Sogar beim Strandspaziergang schaut man ja eher auf dem Horizont, auf die Wellen und die Dünen in der Entfernung, als direkt vor uns auf dem Boden.

Schönheit liegt im Auge des Betrachters

Thuykydides

Dabei gibt’s so unglaublich viele Dinge auf Fußhöhe am Strand zu entdecken. 

  • Ich bin jedes Mal aufs Neue von der Vielzahl der Muscheln fasziniert. Hunderte, tausende. In allen erdenklichen Farben, mit den schönsten Mustern, einige kaputt, andere intakt, manche klein, andere groß. 
  • Ich liebe die tanzenden Sandkörner am Strand. Wenn es richtig windig ist und der Sand eigentlich nass, aber die oberste Schicht trocken, dann tanzen und fliegen die Sandkörner. Unter der Kapuze und mit zusammengekniffenen Augen schaue ich dann dem Sand und dem Wind bei ihrer Choreographie zu.
  • Ich sammele manchmal die kleinen Überraschungen am Strand auf. Mal ist es ein Stück Waschbeton, bei dem ich mich frage, wo das wohl herkommt. Nach einem heftigen Sturm habe ich schon mal eine lange Metallstrebe gefunden, die aber auf den ersten Blick klein und handlich aussah – Der lange, lange Körper war unter dem Sand verborgen. Muss seltsam ausgesehen haben, als ich die Stange zum nächsten Strandmülleimer geschleppt habe.
  • Die Schalen von kleinen Krebsen, die wohl leider zu Möwenfutter geworden oder zum Glück ihrem Gehäuse entwachsen sind, findet man immer wieder. Mal nur eine Schere. Etwas seltener sind die Eihüllen von kleinen Haien oder sonst was, die hier angespült werden.

So viel würde uns verloren gehen, wenn wir nicht ab und an mal ganz bewusst stehen bleiben und den Blick auf den Boden richten, die Augen und das Herz geöffnet, bereit für kleine Wunder und offen für was Neues. Denn das ist es doch, was ein Tapetenwechsel mit uns macht: Wir haben wieder einen freien Kopf, um die Schönheit um uns herum wahrzunehmen.

Und genau das ist es, was so eine Stranddung ausmacht: Da ist ein Ort, an dem Dinge verloren gehen, aber auch wieder auftauchen. Ein Ort, der wild und frei und groß ist, und ein Ort, an dem wir unser Herz öffnen können, weil wir vielleicht einfach zu uns gefunden haben. Geerdet. Gestrandet.

Mit dem Herzen sehen.

Ich finde, nach unten schauen hat etwas von Abenteuerlust, von Freiheit und Mut. Wir lösen uns von den Konventionen, dass die große, weite Welt so bemerkenswert ist und geben uns selbst die Freiheit, auch die kleinen Dinge des Lebens zu schätzen zu wissen. 

Wir öffnen unser Herz, denn nur, weil eine Muschel ein bisschen kaputt ist, heißt das noch lange nicht, dass sie nicht ebenso Bestandteil dieses wunderschönen Strandes ist, wie alle anderen Sandkörner und Muscheln und alles auch.

Von daher möchte ich euch bitten, beim nächsten Strandspaziergang, dem nächsten Urlaub in der Stadt oder auch einfach nur dem nächsten Gang ins andere Zimmer zuhause mal ganz bewusst auf den Boden zu schauen. Denn ich bin sicher, ihr werdet nicht nur unerwartete Dinge sehen, sondern ein klein bisschen wird sich eure Perspektive auch erweitern – und das ist gut so. Ein erster Schritt.

Und so ende ich diesen Artikel mit den Worten aus dem Kinderbuch-Klassiker schlechthin, die wohl jeder kennt: 

„Man sieht nur mit dem Herzen gut, das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar.“

Antoine de Saint-Exupéry, „Der Kleine Prinz“

1 Gedanke zu „Guck mal runter!“

  1. Meinem Kind auf Augenhöhe zu begegnen.

    Oftmals erscheint ein Weg auch nur halb so lang zu sein, denn 17. Kilometer bei Gegenwind können sehr lang werden 😉

    Antworten

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Julia Findeisen

Julia Findeisen lebt seit 2021 auf Juist. Sie schreibt über ihre absolute Leidenschaft: Genussmomente und Glücksorte. Juist ist für sie zur Heimat geworden.

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