Schau mal

Siehe Juist mit Kinderaugen.

Damals war die Welt noch in Ordnung. Ich war 6 Jahre alt und machte Urlaub mit der Oma auf Juist. Mein Bruder war auch dabei. Wir wohnten in der Villa Seestern, und rückblickend ist das vielleicht der Grund für unsere Vorliebe, genau diese seltsamen Gebilde vom Strand mit in das Zimmer zu nehmen, das wir mit unserer Oma teilten.

Wer die Sache mit den Seesternen kennt weiß, dass sie sich nicht besonders lange halten. Bald verbreiteten sie einen muffigen Geruch, der auch vor den letzten Ritzen des Zimmers nicht Halt machte. Natürlich bekamen wir Ärger von der Oma, die uns ausschimpfte: „Die armen Tiere“, sagte sie zu uns. „Ihr müsst sie dort lassen, wo sie hingehören, und das ist im Meer.“ Wir schämten uns und machten es nicht wieder.

Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen.

Wilhelm Busch
Foto: Karl Meier

Jeden Morgen beim Frühstück popelten wir aus den Brötchen, wenn es welche gab, das Innenleben heraus. Das wickelten wir in ein Taschentuch, die damals noch aus Stoff waren, um das „Prockel“ später an die Enten am Ententeich zu verfüttern. Für uns war das jedenfalls der „Ententeich“ – eigentlich ist das natürlich der Goldfischteich. Aber für mich wird es der Ententeich bleiben. Ich weiß, die Enten zu füttern, das ist heute zum Wohl der Tiere ganz und gar verboten und das ist natürlich gut so. Meine Erinnerung daran hat sich trotzdem eingeprägt. Vor allem, weil mir der Weg bis zu den Ententeichen in den Dünen als Kind unendlich lang vorkam.

Gewappnet mit unserem Entenproviant und dem Wenigen, was wir als Kinder sonst noch so brauchten, um einen Vormittag auf Juist zu verbringen. Bestimmt hatten wir eine ganze Menge dabei an Dies und Das, aber mir hat sich der Entenproviant eingebrannt. Meine Oma war erzkatholisch und kurz nachdem wir den Januspark passiert hatten, bog sie ab in die katholische Kirche. Dem lieben Gott guten Tag sagen, erklärte sie uns. Das taten wir und liefen anschließend mit gutem Gewissen weiter den backsteinroten Weg Richtung Promenade hinauf. Er erschien mir unendlich steil und ich war froh, dass ich ihn nicht bis ganz oben, sondern nur bis zu der Abzweigung zu den Tennisplätzen zurücklegen musste.

Ferien auf Saltkrokan. Nur schöner.

Von Weitem hörten wir schon das Ping-Pong der Tennisbälle, die sich die eifrigen Sportler im elegant-weißen Dress hin und her spielten. Immer schon habe ich die Häuser oben auf der Düne vor den Tennisplätzen bewundert und mir vorgestellt, dass ich da einmal wohne. Oben auf der Düne, die mir damals viel höher und die Häuser unerreichbarer schienen als heute.

Gib jedem Tag die Chance, der schönste deines Lebens zu werden.

Marc Twain

Meine Oma und ich liefen weiter und mussten uns entscheiden, welchen der Dünenwege wir an diesem Tag nahmen: den Richtung Meer oder den am Inselfriedhof vorbei. Meistens wechselten wir ab, wobei mir der Weg am Inselfriedhof entlang immer ein kleines bisschen besser gefiel. 

Am Wegesrand und in den Sträuchern rechts und links des Dünenpfads gab es soviel zu entdecken. Alles war so ganz anders als zu Hause. Da hoppelten Hasen durchs Gebüsch, wir sichteten Fasanen und viele Vögel und in meiner Fantasie kreuchte und fleuchte jenseits der Wege noch sehr viel mehr umher. Zu der Zeit war ich ein großer Fan der „5 Freunde“ und ich stellte mir vor wie es wäre, dort im Dickicht der Dünen wie Julian, Dick, Anne und George mit Timmy dem Hund zu zelten und Abenteuer zu erleben. 

Ich glaube heute, dass es meiner Oma sehr gefallen hat, dort mit uns Kindern wie die „5 Freunde“ auf Entdeckungstour zu gehen. Sie besaß dieses kindliche Gemüt und ganz besonders dann, wenn sie auf Juist war. Dann fiel alles von ihr ab und sie wurde selbst wieder zu einem Kind. Sie lachte und scherzte viel und obwohl sie uns oft ermahnte, keine Dummheiten zu machen, wussten wir, dass sie es hier auf Juist nicht so ernst meinte. Im Zweifel hätte sie eher mitgemacht.

Das wirkliche Problem in unserer Welt ist, dass zu viele Menschen erwachsen werden.

WALT DISNEY

Den schmalen Dünenweg rechtsseitig von den Ententeichen (Pardon, den Goldfischteichen!) fand ich besonders verwunschen. Manchmal war es, als hätten die Bäume ein Dach über uns geformt. Dann wurde es plötzlich kühler, schattig, und diesen kurzen Moment, wenn der Körper eine andere Temperatur wahrnimmt, erinnere ich ganz genau. Dann lief mir ein wohliger Schauer über die Haut.

Und dann, dann tauchten wir ein in die Welt rund um die Enteninsel – zumindest haben mein Bruder und ich sie früher so genannt. Heute sieht es da ganz anders aus und vielleicht erinnere ich mich auch nicht mehr so ganz korrekt daran, aber für mich ist der Goldfischteich immer noch der Ententeich mit Enteninsel.

Damals zeigte sich die Wasseransammlung rund um die Enteninsel, wie wir sie nannten, alles andere als einladend. Das trübe, häufig beinah schwarze Wasser empfanden wir als ein bisschen unheimlich. Mein Bruder las damals andauernd den Räuber Hotzenplotz, und dort gab es den Unkenpfuhl. 

Ein Unkenpfuhl war nichts, in das wir hineinfallen wollten, um keinen Preis. Man wusste nämlich nicht, was einen dort erwartete und wir vermuteten, dass es nichts Gutes gewesen wäre. 

Pille Pille Pille!

Wir spähten nach den Enten, die sich manchmal nicht auf Anhieb blicken ließen. Meine Oma hatte aber einen nie versagenden Lockruf, und der ging so: Pille Pille Pille! Pille Pille Pille! Und es dauerte dann nicht lang, bis die Enten sich aus dem Gebüsch der Enteninsel unter Schnattern und Federn schlagen näherten. Neugierig schwammen sie zu uns herüber, natürlich weil sie wussten, dass wir etwas dabei hatten für sie. 

Damals gab es keinen so schnieken Steg wie heute, auch der Otto-Leege-Pfad war vermutlich noch nicht einmal erdacht, es gab nur die Natur und den schmalen Weg, der mit windschiefen grauen Steinen gepflastert rund um die Enteninsel führte.

„Es gibt kein Alter, in dem alles so irrsinnig intensiv erlebt wird wie in der Kindheit. Wir Großen sollten uns daran erinnern, wie das war.“

Astrid Lindgren

Wir verfütterten das „Prockel“, das ist im Sauerland das Weiche, das sich im Brötchen befindet, an die Enten. Ich fand das bedingt gut, denn ich mochte es selber sehr gerne und hätte es lieber selber gegessen. Das kam aber mit meiner Oma nicht in Frage, sie besaß ein großes Herz für Tiere.

Heute sprechen wir von Achtsamkeit und dass wir sie wieder erlernen müssen. Ich erinnere mich dann an diese unbeschwerten Tage auf Juist, die sich so leicht anfühlten und so viele Abenteuer bereithielten. Es fühlte sich, glaube ich, auch so gut an, weil die Erwachsenen ja auch Urlaub hatten. Sie befanden sich im Off-Modus, sie waren einfach nur sie selbst. Jenseits von Verpflichtungen, jenseits von Kontakt zur Außenwelt, denn ein Telefongespräch aus der Telefonzelle vor der katholischen Kirche pro Woche war alles, was uns mit der Außenwelt verband. 

Heute ist das ein bisschen anders. Und doch bleibt Juist Juist. Weil es uns zurück führt zu uns, so wie wir sind. Juist hält so viele kleine Dinge bereit, die wir sonst gerne übersehen, meistens ganz einfach, weil wir zu beschäftigt sind mit den großen, augenscheinlich wichtigen Dingen des Lebens.

Das Zitat von Wilhelm Busch vom Anfang geht noch weiter. Es heißt komplett:

Glück entsteht oft durch Aufmerksamkeit in kleinen Dingen. Unglück oft durch Vernachlässigung kleiner Dinge.

Wilhelm Busch

Vielleicht ermuntert dich diese eine Geschichte von vielen, die wir über Juist erzählen könnten, selbst einmal wieder zurück zu kehren nach Juist und die Insel mit Kinderaugen zu betrachten.

Das Leben kann so leicht und wunderbar sein. Wer Sehnsucht nach diesem Gefühl bekommt, kommt nach Juist. Und kehrt für Momente zurück zu sich selbst.

1 Gedanke zu „Siehe Juist mit Kinderaugen.“

  1. Eine sehr schöne Geschichte einer wundervollen Kindheitserinnerung. Kann ich gut nachvollziehen, da es mir auf Juist auch immer so geht und die Kindheit und auch das Gefühl
    dazu immer wieder so nahe kommt. Auch deswegen fahre ich immer wieder hin! 😉

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Katharina Schlangenotto

Ostwestfälin und Mallorca Residente, Yoga Teacher Trainerin aus Leidenschaft und ausgestattet mit der großen Stärke, das Leben von Menschen und Teams ganzheitlich und mit Leichtigkeit in Schwung zu bringen.

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